„Das kann doch nicht wahr sein!" Donnernd knallte der Greis seine Faust auf den Tisch. „Und ihr seid euch da ganz sicher?"
„Ja, mein Lord. Der Tod nimmt sie mit zu seiner Arbeit, setzt sie entgegen unserer Wünsche ein." Der Mann im langen weißen Gewand schüttelte seine schulterlangen blonden Locken. Die Federn seiner schneeweißen Flügel sahen aus, als ob sie statisch aufgeladen wären. Ein Spiegel seines aufgewühlten Inneren. Er zog ein Tablet hervor, legte es vor seinem Vorgesetzten hin.
Schweigend sah dieser sich die Aufzeichnung an. Als sie geendet hatte, schob er das technische Gerät von sich. Jahrtausende hatte sie ohne diesen neumodischen Schnickschnack ausgekommen, doch jetzt verweigerten seine Mitarbeiter den Dienst, wenn sie nicht dieselbe Ausstattung wie die Ausgeburten der Hölle erhielten.
„Der Tod hat abermals eine reine Seele gerettet, mein Lord", sprach der Engel, als sein Boss still vor sich hin brütete.
„Das habe ich gesehen. Ich bin doch nicht blind", knurrte dieser. Nur weil er wie ein Tattergreis aussah, bedeutete das nicht, dass das Geschehen an ihm vorbeiging. Er kannte ihre Mutmaßungen, hörte, wie sie hinter seinem Rücken über ihn tuschelten und sich fragten, wann sein Sohn oder einer der Erzengel, seine getreuen Generäle, die Arbeit übernahmen. Viele seiner Mitarbeiter waren zu jung, um zu wissen, wie lange er das Böse schon bekämpfte. Und während sein stärkster Widersacher die Menschen mit einem ansehnlichen Körper verführte, suchte er sie als weiser Älterer zu führen. So wie das Kind, das ihnen zugestanden hätte, um später in seine Heerschar einzutreten. Ein reines Wesen im Kampf gegen die Finsternis. „Was wissen wir über das Mädchen?"
„Ana, die Tochter eines Gangleaders, sollte im Kugelhagel ihr unschuldiges Leben verlieren, um zu uns aufzusteigen. Für Höheres bestimmt, statt sich auf Erden zu quälen. Alissa, die Edle, hat sie aus der Lagerhalle gebracht, bevor das Feuergefecht losging. Der Tod hat hierfür einen der Männer, der auf das Kind aufpasste, frühzeitig geholt."
„Ein Vertragsbruch?" Der Alte lehnte sich wissbegierig vor. Hatte er endlich etwas gegen den Seelensammler in der Hand?
„Leider nein. Es handelte sich bei der Person um einen Zweifelsfall. Er wäre vermutlich auch so umgekommen."
„Verdammt!" Der Greis schlug erneut auf den Tisch. Wieso war er nur von Idioten umgeben? So viel einfacher hatte es sein Gegenspieler mit dem Personal, das ihm treu ergeben war. „Ruf die Generäle zusammen."
„Sehr wohl, mein Lord." Der Blonde verschwand, froh seinen aufbrausenden Boss hinter sich zu lassen. Sollten sich doch die Erzengel mit ihm auseinandersetzen.
Diese trafen wenig später im Schloss ihres Herrn ein. Wie üblich nahmen Uriel, Raphael, Raguel, Michael, Sariel, Gabriel und Remiel an der ovalen Tafel im Besprechungssaal Platz und warteten dort auf das Eintreffen, des Wesens, das den Menschen die Hoffnung auf ein ewiges Leben gegeben hatte.
„Ihr könnt euch sicher denken, warum ich euch habe rufen lassen", eröffnete der Greis das Gespräch, nachdem er sich auf seinen mit Kissen ausstaffierten Thron, der ein wenig höher als die einfachen Stühle seiner Generäle stand, niedergelassen hatte.
„Azrael hat wieder Scheiße gebaut." Sariel gähnte müde. Ihn schien es wenig zu interessieren, dass der Sohn des Teufels ihnen abermals ins Handwerk gepfuscht hatte. Zu oft war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass der Todesengel sich in ihre Angelegenheiten gemischt oder einem von ihnen die ersehnte Braut genommen hatte.
„Er lebt jetzt unter dem Namen Donn", verbesserte Michael sofort. Der Herrscher des Himmels nickte ihm anerkennend zu. Wenigstens einer seiner Männer, der den Geschehnissen auf der Erde Achtung schenkte. Der Rest schien sich eher auf den Genuss göttlicher Speisen und dem Lauschen himmlischer Musik zugewandt zu haben.
„Zu dem Frevel wäre es womöglich nicht gekommen, hätten wir nicht den alten Vertrag auf dem Gebiet des Teufels verbrennen sollen. Das haben sie als Kampfansage gesehen." Remiel malte imaginäre Kreise auf den Tisch. „Ich glaube nicht, dass wir ihnen in einem eventuellen Krieg gewachsen wären."
„Dann sorgt dafür, dass unsere Truppen bereit sind!", donnerte der Alte. Mit einem finsteren Blick warf er seine Generäle hinaus, befahl ihnen barsch, das Trainingspensum der göttlichen Heerscharen zu verdreifachen. Selbst sein engster Vertrauter Michael schaute ihn dafür an, als ob er den Verstand verloren hatte. Doch wie sollte er ihnen sonst die Dringlichkeit der Lage verdeutlichen? Sie waren alle im Lauf der Jahrhunderte verweichlicht. Der Greis seufzte leise und ließ sich auf seinen Thron sacken. Den Kopf auf den Händen aufgestützt überlegt er, wie er seinem alten Feind abermals ein Schnippchen schlagen konnte. Doch wie er es auch betrachtete, seine Truppen waren nicht einsatzbereit.
Hatte er zu lange auf Luftschlösser gebaut?
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...