Kein Erbarmen

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„Deine Zeit ist gekommen", sprach Donn mit fester Stimme zu dem Todkranken. Dieser nickte geschwächt, lächelte seiner Tochter noch einmal zu. Er schien seit der Beichte der zwei Männer seinen Frieden gefunden zu haben. Abgeschlossen mit dem Leben, jetzt wo das Geheimnis heraus war.

Lissa klammerte sich an Donns Hand. Krampfhaft hielt sie fest, um ihn davon abzuhalten, zu dem Schwerkranken zu gehen. Der Obdachlose im Park kam ihr wieder in den Sinn. Der wie ihr Vater gehustet hatte und dessen rasselnde Atmung verstummt war, sowie der Mann ihn berührte. „Bitte, es muss doch einen anderen Weg geben", flehte sie. Ihre Augen füllten sich zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag mit Tränen.

„Es ist gut, Lissa. Ich sehne mich danach, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen, mein Kind." Der Kranke keuchte, rang nach Luft. Er streckte seinen zitternden Arm nach Donn aus. „Bitte erlöse mich von den Qualen."

„Es tut mir leid, Lissa, aber du musst mich jetzt wirklich loslassen, damit ich meiner Arbeit nachgehen kann." Behutsam löste er ihren Klammergriff. Neben ihr schluchzte ihre Mutter auf. Lissa schlang die Arme um die zitternde Frau. Sie selbst wollte ihren Kollegen anschreien, doch ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass ihre Zunge an ihrem Gaumen klebte und kein Laut über ihre Lippen drang. Hilflos sah sie zu, wie Donn sich vor ihren Vater hockte und ihn sanft an der Schulter berührte. Dabei murmelte er einige Worte in einer fremden Sprache, wie es schien. Als sie den Namen ihres Vaters heraushörte, verfiel sie in eine Starre. Alles in ihr schrie sie an, aufzuspringen und aus dem Haus zu stürmen, doch ihre Muskeln zuckten nicht einmal.

Stille legte sich über den Raum, nur unterbrochen von dem gelegentlichen Schniefen ihrer Mutter. Der Mann, der sie großgezogen hatte, sackte in sich zusammen. Einzig auf dem Sessel gehalten durch den festen Griff ihres Kollegen, der den Toten vorsichtig umpositionierte, damit er nicht auf den Boden stürzte.

„Er hat seinen Frieden gefunden." Wie durch eine dichte Schicht drangen die Worte Hadals zu ihr hindurch. Ganz so, als ob sie unter der Wasseroberfläche schwebte, die nur gedämpft Laute zu ihr durchließ „Lass uns gehen, mein Sohn. In ihrer Trauer stören wir nur." Er wandte sich zur Tür, weckte Lissa aus ihrer Starre.

Sie sprang auf und stürmte auf ihn zu. „Ihr verdammten Arschlöcher", herrschte sie ihn an. „Wenn ihr so mächtig seid, mein Leben zu sparen, wieso habt ihr seins nicht gerettet?" Sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust. Nicht einen Gesichtsmuskel verzog er. Stoisch stand er da und ließ ihre Schläge auf ihn einprasseln. Kein Ton, kein Rüffel, einfach nur Akzeptanz ihres Verhaltens. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, erzürnte sie noch mehr. Sie holte aus, schlug ihm mit all ihren Kraftreserven ins Gesicht. Noch immer rührte er sich nicht. Ein Fels in der Brandung, dem selbst das tosendste Meer nichts anhaben konnte. „Ich hasse dich", schrie sie, schier blind vor Tränen. „Ich hasse euch beide."

Ein Arm schlang sich um ihren Bauch. Jemand zog sie nach hinten, an eine harte Brust. Weg von der herzlosen Kreatur, die ihretwegen zurück in die Hölle kehren und dort am Schwefel ersticken konnte. „Lissa beruhige dich bitte. Niemand konnte ihn retten. Für Wunder sind wir nicht zuständig." Sanft wiegte Donn sie hin und her. „Du musst jetzt stark sein, für deine Mutter. Sie braucht dich jetzt." Er hauchte ihr einen Kuss auf den Hals. „Ich weiß, dass du es kannst. Egal wie schwer es dir jetzt erscheinen mag, du wirst dich zusammenreißen und ihr in dieser schwierigen Zeit beistehen. Das spüre ich."

Eine Weile standen sie so da. Lissa gehalten von ihrem Kollegen, der ihr Kraft und Wärme spendete. Ganz langsam beruhigte sich ihre stoßhafte Atmung und kehrte ihr Puls zu seinem normalen Takt zurück. Erst als sie völlig zur Ruhe gekommen war, ließ Donn sie los.

„Wir gehen jetzt, damit ihr alles in die Wege leiten könnt. Heute Abend komme ich vorbei, um nach dir zu sehen. In Ordnung?" Behutsam strich er ihr über das Gesicht, wischte die letzten Tränen weg.

Stumm sah Lissa ihm hinterher, wie er mit seinem Vater den Raum verließ. Leere breitete sich in ihrem Herzen aus. Sie sackte durch die Knie, schlang die Arme um das einzige Familienmitglied, das ihr noch geblieben war. Ihr Blick wanderte zu der regungslosen Gestalt im Sessel. Die Augen geschlossen schien es fast so, als ob er in einen tiefen Schlaf versunken wäre. Aber das fehlende Heben und Senken seines Brustkorbs sprach eine andere Sprache. Er war tot. Nie mehr würde er sie aufheitern, wenn sie traurig war oder ermuntern, wenn sie sich etwas nicht zutraute. Ihr Vater war von ihnen gegangen, hatte sie zu zweit zurückgelassen. Lissas Kehle schnürte sich langsam zu. Er hätte noch so viele schöne Jahre an der Seite ihrer Mutter haben können, doch der Tod kannte kein Erbarmen.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt