Lissa keuchte angestrengt. Seit einer gefühlten Ewigkeit rannte sie durch dieses Labyrinth aus schwarzen Wänden und blutroten Fußböden, die im Schein der Fackeln wie langsam dahinfließende Lava wirkten. Sie hielt einen Moment inne, stützte sich am Eingang zu einem weiteren ewig langen Gang ab. Ihre Kleidung war von der Hitze hier unten und der Flucht vor den Dämonen mit Schweiß durchtränkt. Shirt und Hose klebten wie eine zweite Haut an ihr, erschwerten ein Vorwärtskommen. Angestrengt lauschte sie nach Geräuschen, die ihr verrieten, ob ihr jemand folgte. Nichts, aber auch wirklich rein gar nichts war zu hören.
Sie tastete sich an der Wand entlang, schlich auf Zehenspitzen in den Gang. Die Fackeln flackerten bedrohlich, wie von einem starken Windzug, doch ihr schien es, als ob die Luft hier schwand. Schwül, unerträglich warm, um entspannt Atem zu holen. Sie wischte die Hände an der ebenso nassen Hose ab. Welche von den Dämonen folgten ihr? Wer trieb sie immer tiefer ins Labyrinth, verhinderte, dass sie einen Weg hinausfand? Zagan, von der Rechtsabteilung? Die Nervensäge Chil? Cassandra oder Lilith, damit eine ihrer Freundinnen oder vielleicht beide? Lauerte Andha ihr hinter der nächsten Ecke auf? War es nicht letztendlich egal?
Lissa quälte sich weiter vorwärts. Warum kämpfte sie noch gegen das Unvermeidliche an? Ihre Füße schmerzten, fühlten sich an, als ob die Haut von ihren Fußsohlen gebrannt war. Ihre Muskeln waren schwer, verkrampften mit jedem zweiten Schritt, und ihre Zunge klebte am Gaumen. Lange hielt sie diese Tortur nicht mehr aus. Da konnte sie genauso gut gleich aufgeben. Sie seufzte verhalten. Eine Kapitulation kam nicht in Frage. Ihr Vater hatte trotz der Krankheit für jeden Tag an der Seite seiner Frau gekämpft, da würde sie ihm nicht gerecht werden, gab sie jetzt auf.
Vorsichtig näherte sie sich einer Abzweigung auf der linken Seite des Ganges. Ein schwarzes gähnendes Loch, das ihr Misstrauen weckte. Erneut hielt sie inne, reckte die Nase in die Luft. Ein ihr allzu bekanntes Deo stieg ihr in die Nase. Zagan. Ein Paragraphenreiter, der wenig aus seinem Büro herauskam. Er war nicht so durchtrainiert wie andere Dämonen, beschränkte sich bevorzugt darauf, seine Gegner mit langweiligen Gesprächen mürbe zu machen, dennoch unterschätzte Lissa ihn nicht. Sorglosigkeit und Selbstüberschätzung sorgten dafür, dass man unterlag. Doch das hatte sie nicht vor. Sie näherte sich der Abbiegung so leise, wie es ihr möglich war.
„Lissa, die Zeit wird knapp!" Hadals Stimme, die durch die in den Gängen angebrachten Lautsprecher durch das Labyrinth hallte, schien ihr viel zu nah. Als ob er direkt hinter ihr stand. Eine Gänsehaut breitete sich trotz der Hitze auf ihrem Nacken aus. Fast wäre sie vorwärts gehechtet – ohne Rücksicht auf Verluste. Ihr Herz pochte viel zu schnell unter ihren Rippen. Lissa zählte bis zehn, atmete dabei gleichmäßig ein und aus. Erst dann schob sie sich näher an die Stelle heran, wo sie Zagan vermutete.
Ihre Hand schnellte zu ihrer rechten Gesäßtasche, zog den schmalen Gegenstand heraus, der ihr helfen würde. Zumindest wenn sie es schaffte, ihn einzusetzen. Als Waffe erhoben sprang sie in den Seitengang und stach zu. Die Spitze verschwand im Oberarm des Dämons. Schnell drückte sie auf den kleinen Knopf an der hinteren Seite der Spritze, injizierte gewissenlos das Mittel in seinen Körper. Lautlos sackte Zagan zu Boden.
Lissa lächelte kurz. Doch so rasch, wie das Lächeln gekommen war, verschwand es wieder. Welchem Weg folgte sie nun? Dem langen Gang, der von den Fackeln erleuchtet war, oder diesem düstren Seitenpfad, in dem sie kaum die Hand vor Augen sah? Sie entschied sich für die Dunkelheit, wohl wissend, dass die Dämonen hier besser sahen als sie. Doch gleichzeitig davon überzeugt, dass sie es ihr nicht zutrauten, in völliger Finsternis einen weg hinaus zu finden. Sie tastete sich an der Wand entlang, setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen.
„Du solltest dich beeilen, die Zeit ist gleich vorbei, Lissa", ermahnte Hadal sie abermals. „Möchtest du nicht lieber aufgeben?"
Sie zeigte ihm im Dunkeln einen Vogel und arbeitete sich weiter vorwärts. Irgendwo musste hier doch der verflixte Ausgang sein. Nur wo? Ein Windhauch streifte sie, nahm für einen Augenblick die Hitze von ihrer Haut. Ein kleines Stück noch, dachte sie bei sich. Ein Arm wand sich in dem Moment um ihre Taille, als die Lichter angingen und ein Alarm schrillte.
„Nicht schlecht, Kleines." Donn reichte ihr eine Flasche Wasser. „Dein Orientierungsvermögen funktioniert selbst unter diesen Umständen. Fast hättest du es hinausgeschafft. Was man von dem armen Zagan nicht behaupten kann." Er warf einen Blick über ihre Schulter und schmunzelte.
Lissa drehte sich um, sah, wie zwei Kollegen sich um den Mann aus der Rechtsabteilung kümmerten, der friedlich vor sich hin schnarchte. „Ich wollte ihm nur seinen wohlverdienten Schlaf gönnen. Er schläft doch sonst immer auf der Tastatur."
„Lass ihn das mal nicht hören. Sonst kannst du dir demnächst sämtliche Gesetzestexte anhören, mit denen er täglich zu tun hat. Dann bist du diejenige, die auf der Tastatur einschläft. Aber komm, du möchtest nach dieser Tortur sicher duschen."
„Gerne. So müde war ich schon lange nicht mehr." Lissa gähnte verhalten. „Aber Spaß gemacht hat mir das Training trotzdem."
„Sehr schön, dann können wir morgen ja zusammen auf den Spielplatz gehen."
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...