Lissa schlug den Kragen ihrer Jacke höher und sah sich missmutig um. Als sie Donn gebeten hatte, sie bei einer seiner nächtlichen Runden mitzunehmen, um ihn bei seiner Arbeit zu begleiten, hatte sie nicht erwartet, in dieser gottverlassenen Gegend zu landen. Wieso starb nicht irgendein reicher Fuzzi in seiner Villa? Stattdessen traf es wohl wieder einen Obdachlosen, der vom Leben auf der Straße gezeichnet viel zu früh vom Tod geholt wurde. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie seufzte kaum hörbar.
„Das könnte heute interessant werden." Donn kehrte von seiner Kundschafterrunde zurück, ein diabolisches Grinsen im Gesicht.
„Du freust dich viel zu sehr darüber, dass heute jemand stirbt", zischte sie ihm zu. In manchen Momenten glich ihr Freund einem Psychopathen, dem es Freude bereitete, wenn andere litten.
„Findest du?" Er stupste sie sanft an. „Dann verrate mir mal, weshalb wir deiner Meinung nach hier sind." Er wies auf die Lagerhallen um sie herum. Einige mit Brettern vernagelt, bei anderen die Fenster durch Steine herausgeschlagen. Die Wände waren fast ausnahmslos mit Graffitis besprüht, manche, ältere Sprühbilder, von neueren überlagert.
„Irgendein Wohnsitzloser, der in einer der Hallen sein Lager aufgeschlagen hat." Sie zuckte mit den Schultern. So trostlos, wie es an diesem Ort aussah, eine überaus logische Möglichkeit.
„Falsch." Donn grinste noch breiter. „Dafür bräuchtest du dein Training nicht. Rate noch mal. Sieh dir die Gebäude genau an." Er wies auf eine Wand in unmittelbarer Nähe.
Lissa musterte das Mauerwerk. An einigen Stellen war der Putz herausgeschlagen. Kleine Krater, wie von einem winzigen Meteoritenschauer. Einschusslöcher? Sie riss die Augen weit auf und starrte ihren Freund entsetzt an. „Das ist nicht dein Ernst. Du schleppst mich auf das Gelände einer Gang?"
„Nicht nur irgendeiner Gang. Das hier ist das Gebiet der Street Dogs, wie du unschwer an den Graffitis erkennen kannst. Ich habe gehört, dass sie jemandem bei einem Drogendeal die Ware geklaut haben. Böse Jungs. Und leichtsinnig."
„Irgendwas an deinen Worten lässt mich vermuten, dass es hier gleich Blei regnet", murrte Lissa. „Dürfte ich dich daran erinnern, dass ich im Gegensatz zu dir nicht unsterblich bin. Ich bin nur unanfällig für Krankheiten."
„Nun sei mal nicht so." Blitzschnell beugte er sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Mit ein paar Beschwörungen lässt sich das mit der Sterblichkeit eh problemlos ändern. Vater hat sich damit schon ein wenig beschäftigt."
Lissa verkniff sich einen Kommentar. Wieso wunderte es sie nicht, dass ihr Schwiegervater in spe bereits an einer Lösung forschte? Ihr Blick glitt erneut über das Terrain. Heruntergekommen. Ausladend. Eine stumme Warnung an Vorbeigänger, sich nicht zu lange an diesem Ort aufzuhalten.
„Komm." Donn zupfte sie am Ärmel. „Wir schleichen uns jetzt in die Lagerhalle dort drüben." Er wies auf eine, deren Fenster mit dicken Brettern verrammelt waren. „Dort treffen sie sich nachher, um zu beraten, was sie mit den zehn Kilo Kokain anstellen werden. Ich gehe davon aus, dass die Scorpions, denen der Stoff gehört, gegen Mitternacht auftauchen werden." Er schaute auf seine Armbanduhr. „Also in etwa einer Stunde."
„Du erwartest also wirklich, dass ich dich begleite." Lissa atmete tief durch. Bisher hatte der Tod sie vor allem beschützt. Auch heute würde er sie vorm Sterben bewahren. „Dann lass uns reingehen, bevor die Idioten auftauchen. Von wie vielen Toten gehst du aus?"
„Auf einer Seite oder insgesamt?" Er zog sein Smartphone hervor, wischte ungeduldig mit dem Zeigefinger darauf herum. „Fünfzehn bis zwanzig insgesamt. Bei fünfen ist das Schicksal noch nicht eindeutig. Bei acht von den Scorpions erwarte ich, dass Aswa sie für die Seelensuppe holt. Mörder und Vergewaltiger. Nicht schade drum. Vier von den Street Dogs qualizieren sich auch für des ewige Köcheln in der Verdammnis. Eine hübsche Ausbeute." Er schmunzelte, dann wurde sein Gesicht ernst. Er starrte auf einen flackernden Punkt. „Tut mir leid, Schatz, aber du wirst definitiv dein Training einsetzen müssen, um auf mein Kommando ein fünfjähriges Mädchen herauszubringen."
Lissa atmete scharf ein. Was hatte ein kleines Kind in dieser heruntergekommenen Gegend zu suchen? Donn, der ihre Gedanken erriet, tippte auf den Punkt und ließ sie die dazugehörige Nachricht lesen. Das Mädchen war die uneheliche Tochter vom Anführer der Street Dogs. Die Mutter vor einem Jahr gestorben, keine lebenden Verwandten und der Vater ein Kandidat für die Seelensuppe. „Was passiert mit ihr, wenn ich es schaffe, sie zu retten?"
„Das klären später. Erst sollten wir jetzt unsere Plätze einnehmen. Ich erkläre dir noch, was du zu tun hast. Halte dich an meine Anweisungen und es wird nichts schiefgehen."
Lissa hoffte, dass ihr Freund recht behalten sollte, doch der Gedanke an das Kind, das sich in dieser Nacht in Todesgefahr befand, drehte ihr den Magen um.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...