Lissa lag grübelnd im Bett. Nicht in ihrem Zimmer im Wohngebäude Hadals, sondern in ihren eigenen vier Wänden. Die mickrige Nachttischlampe spendete Licht, beschien den Ort, an dem sie vor dem Jobangebot einen Großteil ihrer Freizeit verbracht hatte. Sie ließ den Blick durch das Halbdunkel gleiten. Alte Poster waren mit unzähligen Stecknadeln an der Tapete befestigt. Idole ihrer Jugend. Keine Rockstars oder Schauspieler. Nein, es waren berühmte Wissenschaftler, Schriftsteller und andere Persönlichkeiten, die durch konsequente Arbeit Großes erreicht hatten. Der Schreibtisch, dessen leere Arbeitsfläche dazu einlud, Studienbücher aufzuschlagen, für die nächsten Prüfungen zu büffeln, wie in früheren Zeiten. Es schien eine Ewigkeit her, dass sie hier gelebt hatte.
„Wieso hast du mich ungefragt zu meinen Eltern gebracht?" Donn hatte sich seltsam verhalten. Keine anzüglichen Bemerkungen, als sie auf seinem Schoß saß. Gefühlte Stunden hatte sie sich an ihn gelehnt, die sanften Berührungen an ihrem Rücken genossen. Zum Abendessen waren sie in eine kleine Pizzeria eingekehrt, nicht in ein Restaurant, das seinem Vater gehörte. Normalität, die er ihr aus irgendeinem unerklärlichen Grund schenkte. Danach war er scheinbar ziellos durch die Stadt gefahren, bis er den Wagen vor ihrem Elternhaus anhielt. „Verbringe Zeit mit ihnen. Lebe im Moment", wiederholte sie seine Worte, die in dem Augenblick, in dem er sie äußerte, melancholisch klangen. Lissa setzte sich auf. An Schlaf war nicht zu denken. Das Verhalten ihres Kollegen ließ ihr keine Ruhe. Leise zog sie sich an, schlich auf Socken die Treppe hinunter. Die Haustür zog sie behutsam hinter sich ins Schloss, damit ihre Eltern nicht aufwachten. Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Ihr Vater hatte, obwohl er dank ihrem Gehalt seine Arbeit reduzieren konnte, erschöpfter ausgesehen als je zuvor. Das war mit Sicherheit kein gutes Zeichen. Hatte ihre Mutter womöglich in der Firma angerufen, damit jemand sie vorbeibrachte? Wenn ja, wieso ausgerechnet Donn? Cassandra und Andha, selbst Lilith zeigten sich besorgter um ihr Wohlergehen als der Sohn des Chefs.
Die kühle Nachtluft wehte ihr um die Nase. Lissa schlug den Weg zum Park ein. Zur heruntergekommenen Bank, wo sie ihren Kollegen das erste Mal getroffen hatte. Kurz vor dem Ziel stockte sie. Was war das? Auf einem schwarzen Podest stand eine ebenso tiefschwarze Männerfigur. Die dunkle, weich fallende Kleidung mit ihren kleinen Falten wirkte so real, dass sie einen Augenblick fast der Versuchung erlag, die Skulptur zu berühren. Sie wandte sich kopfschüttelnd ab, setzte sich auf die Bank und stützte die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab.
Rascheln. Ein Lufthauch. Lissa schrak hoch. Hatte das Standbild sich bewegt? Misstrauisch ließ sie den Blick über die Statue gleiten. Ein attraktiver Körperbau. Schlank, mit Muskeln, die sich unter der Kleidung abzeichneten. Das Gesicht lag im Schatten zweier riesiger Flügel. Die Federn, vom Mondlicht beschienen, waren so fein gearbeitet, dass Lissa sich einbildete, dass sie sich leicht im Wind bewegten.
„Na toll, jetzt halluziniere ich auch noch." Sie schaute weg von der anziehenden und gleichzeitig unheimlichen Skulptur. „Habe ich mir Papas Schwäche vielleicht auch nur eingebildet?" Sie hoffte es, doch eine traurige Gewissheit breitete sich in ihrem Innern aus. Vor wenigen Jahren hatte eine Nachbarin ähnlich erschöpft gewirkt, Wochen vor ihrem Tod. Lissa biss sich auf die Lippen, presste die Fingernägel in ihre Handflächen. Ein Brennen in den Augen warnte sie vor der salzigen Sturzflut, die hervorzubrechen drohte. Stand es wirklich schlecht um ihn? Sie hatte den Job bei Hadal doch extra angenommen, um ihn zu entlasten. War dies alles umsonst? Die ersten Tränen kullerten über ihre Wangen, sammelten sich an ihrem Unterkiefer. Sie wischte mit dem Ärmel drüber. Wo war nur Andha, um sie zu trösten? Oder Cassandra? Warum hatte Donn sie nur zu ihren Eltern gebracht? Wusste er mehr, als er ihr verriet? Wenn ja, wieso war er in diesem Moment nicht bei ihr, sondern ließ sie mit der Erkenntnis im Stich? Leise Schluchzer hallten über die Wiese. Ein Schatten rauschte über ihren Kopf, der begleitende Luftstrom wirbelte ihre Haare durcheinander. Ein großer Raubvogel. Etwas streifte ihre Wange, fiel ihr auf den Schoß. Verwirrt fasste sie die riesige schwarze Feder mit Zeigefinger und Daumen fest, zwirbelte sie zwischen ihnen. Ruckartig schaute sie hoch. Das Podest lag verlassen da. Keine Spur von der Männerskulptur. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken, rieselte langsam an der Wirbelsäule hinab, lähmte ihre Beine. War sie so übermüdet, dass sie sich das Standbild eingebildet hatte? Der geflügelte Tod als Abspiegelung ihrer Ängste? Ein Trugbild? Ein Phantom?
Mühsam erhob sie sich, gegen den Widerstand ihres Körpers, der merkwürdig steif reagierte. Wie das Kaninchen angesichts der Schlange, starr vor Schreck. Langsam wich sie rückwärts Richtung Pfad. Ihre Atmung nichts mehr als ein oberflächliches Luftholen. Etwas stimmte hier nicht. Stimmte seit einer Weile nicht. Seitdem sie der Einladung Hadals gefolgt war. Sie knallte gegen einen Widerstand. Kräftige Arme schlangen sich um ihre Taille, hielten sie davon ab, zu Boden zu stürzen. Ihr Mund formte sich zu einem lautlosen Schrei. Das Phantom, es hatte sie gepackt.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...