„Stell dir einfach vor, du liegst mutterseelenallein am Strand." Cassandra, die sich auf einer Liege ausbreitete wie ein Seestern, hatte leicht reden. Lissa musterte misstrauisch die anderen Badegäste im Schwimmbad, das Hadal kurzerhand für einen Nachmittag gemietet hatte. Dementsprechend liefen, schwammen und tobten keine Fremden herum, sondern allesamt Kollegen mit viel zu makellosen Körpern. Andhaka kletterte zusammen mit zwei weiteren Männern auf den Sprungturm, ganz nach oben. Lissa schluckte. Keine zehn Pferde bekamen sie dort hinauf. Nicht einmal der Teufel persönlich. Wenigstens war es in der Halle angenehm warm. Einige Grad höher als für gewöhnliche Besucher. Wie im Nobiskrug, in den sie seit längerem keinen Fuß mehr gesetzt hatte.
„Hallo meine Hübschen." Chil setzte sich ungeniert auf das Fußende von Cassandras Liege und streckte die Arme weit nach oben. Wie auf einem Präsentierteller zeigte er seinen durchtrainierten Körper, zwinkerte Lissa vergnügt zu. Sie wandte den Blick ab, suchte mit den Augen das Schwimmbecken ab. Wo steckte nur Donn? Hatte er nun doch Kasdeyas Werben nachgegeben und sich mit ihr in eine stille Ecke verzogen?
„Ist alles in Ordnung mit dir?" Chil wechselte zu ihr auf die Liege, musterte sie mit zusammengebauschten Augenbrauen. Sanft strich er über ihren Handrücken, hinterließ eine eisige Kälte. Verwirrt zog sie sich von ihm zurück. „Merkwürdig." Er runzelte die Stirn, stand auf und lief mit zügigen Schritten weg.
„Lissa?" Cassandra richtete sich auf, warf ihr einen besorgten Blick zu. „Normalerweise würde ich es ja begrüßen, dass du Chil verscheuchst, aber irgendwas scheint mit dir nicht zu stimmen." Sie rückte näher, legte dem Mädchen die Hand auf die Stirn. „Du glühst ja regelrecht."
„Kann gar nicht sein." Lissa lehnte sich nun ihrerseits zurück und machte es sich bequem. Es schien ihr, als ob sie in ihrem gemütlichen Bett unter einer dicken Decke lag. Die Geräusche um sie verschwammen, nahmen immer weiter ab, bis sie schließlich verstummten.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Meeresrauschen begleitete im Takt ihre Atmung. Eine sanfte Brise strich über ihren Körper, brachte kaum Abkühlung an diesem Sommertag. Sie seufzte leise. So gefiel es ihr. Der erste richtige Urlaub in ihrem Leben. Fernab von allen, die etwas von ihr verlangten. Hadal, Donn, Cassandra, ihre Eltern.
Sie schrak hoch, starrte auf die Brandung, die beharrlich ans Ufer schlug. Es war nicht fair, so abwertend über ihre Mutter und ihren Vater zu urteilen. Sie hatten immer hart gearbeitet, um ihr eine möglichst schöne und sorgenfreie Kindheit zu ermöglichen. Und doch wisperte ihr eine Stimme zu, dass es an der Zeit war, einmal nur an sich zu denken. Verführerisch, verlockend. Eine Frauenstimme, die sich mit sanfter Gewalt in ihrem Kopf einnistete.
Du brauchst Donn nicht. Er nutzt dich nur aus.
Lissa wandte sich ruckartig um. Wer hatte das gesagt? Misstrauisch ließ sie den Blick über den fast weißen Sand gleiten. Der Wind spielte mit den Blättern der Palmbäume, die den Weg zu dem kleinen Strand säumten, der in einer Bucht versteckt lag. Niemand war außer ihr an diesem Ort. Sie legte sich beruhigt zurück auf ihre Liege.
Donn will dich nur ins Bett bekommen. Danach lässt er dich fallen wie eine heiße Kartoffel, wie das unnütze Menschlein, das du bist.
Was zum Teufel? Lissa riss die Augen weit auf. Die Stimme erinnerte sie an jemanden. Sowohl die Worte an sich als auch der Klang, das Katzenhafte, ähnelten einer der neuen Kolleginnen.
Jilaiya. Eine der besten Freundinnen von Kasdeya, die es bisher nicht verschmerzt hatte, dass der Sohn des Chefs sie vehement abwies.
Lissa schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Was suchte diese schwarzhaarige Hexe hier und vor allem, wo genau steckte sie? Das Mädchen beugte sich über den Rand der Liege, spähte hinunter. Nichts außer Sand. Im Wasser und bei den Bäumen erkannte sie ebenfalls keine Personen, auch keine Bewegungen oder Schatten, die auf Selbige schließen ließen.
Der Boden unter ihr begann zu beben. Panisch griff sie nach den Rändern der Liege, klammerte sich eisern daran fest. Ein Erdbeben! Was, wenn es einen Tsunami, eine haushohe Welle der Vernichtung auslöste? Lissas Muskeln spannten, um aufzuspringen, sowie das Beben nachließ. Doch es nahm nur in Intensität zu. Schweiß lief ihren Nacken entlang, die Haare klebten ihr am Kopf. Unerträgliche Hitze statt sanftem Lüftchen. Ihre Zähne klapperten, so heftig schwankte alles.
„Aufwachen Lissa!" Donns Stimme drang wie durch eine dicke Nebelwand zu ihr. Die Helligkeit des Tages verschwand, abgelöst von schwärzester Nacht. Noch immer wütete das Erbeben. Etwas Weiches berührte ihre Lippen. Sie schlug die Augen auf. Die schrillen Schreie, das Lachen der Badegäste hallten im Schwimmbad wider. Vor ihr saß ihr Kollege, beide Hände fest an ihren Kopf gepresst. Mit seinen eisblauen Augen scannte er jeden Millimeter ihres Gesichts, bevor er stoßweise ausatmete. „Alles in Ordnung, du hast nur geträumt."
Ein Traum? Der Sommersonnentag am Strand, das Beben, alles nur ein Traum? Ihr Blick wanderte an Donn vorbei, zu einer kleinen schwarzhaarigen Gestalt am Beckenrand. Ein hinterhältiges Grinsen im Gesicht, bevor Jilaiya sich abwandte und ins Wasser sprang.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...