Revue

44 10 0
                                    


Lissa starrte auf dem Bett liegend an die Decke. Ihr Arbeitgeber hatte sie vom Brandherd weggebracht, doch entgegen seinem Versprechen nicht zu Hause abgeliefert. Stattdessen war sie in dem Hotelzimmer gelandet, in dem sie nach dem ersten Abend im Nobiskrug aufgewacht war. Es war eher ein Pensionszimmer oder etwas in der Art, denn die meisten Zimmer waren durch Mitarbeiter der Firma belegt, wie Hadal ihr auf der Rückfahrt erklärte. Gleich nachdem er ihr verdeutlicht hatte, dass er ihre Kündigung nicht annahm und ihren Gefühlsausbruch im Club als einen Vorfall abstempelte, der nie vorgefallen war. Sie seufzte. Das sahen ihre Kollegen mit Sicherheit anders. Konnte sie sich auf der Arbeit noch blicken lassen?

„Wer war im VIP-Bereich anwesend, als ich ausgetickt bin?" Cassandra und Andhaka? Hatte sie ausgerechnet die Zwei mit ihrem Verhalten vor den Kopf gestoßen? Jemand anders, der ihr wichtig war? Angestrengt überlegte sie. Zum Schlafen war sie zu aufgewühlt. Wieso war Donn bei dem brennenden Krankenhaus ausgestiegen? Was hatte sein Vater mit dieser seltsamen Aussage gemeint, dass der Feuerteufel dieses Mal seiner gerechten Strafe nicht entging? Wie war er sich da so sicher? Wie ein Racheengel war er ihr in dem Moment vorgekommen. Rot aufleuchtende Augen. Nein, das war nur das sich spiegelnde Licht.

Lissa drehte sich auf die Seite, sah zur Wanduhr. Neun Uhr morgens. Knapp drei Stunden und sie war noch immer hellwach. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem direkten Kollegen. Sein Verhalten im Nobiskrug, die sexuelle Belästigung. Weshalb nahm der Mistkerl an, dass sie ihn begehrte? Weil sie Chil und Zagan hatte abblitzen lassen, stattdessen behauptet hatte, Donn wollte mit ihr zum Club? Hatten die Kollegen in der Eingangshalle nicht einander wissend angeschaut? Dann die Reaktion ihres Körpers auf seine sanften Liebkosungen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte sich ihm hingegeben. Einzig ihr Verstand hatte sie vor diesem Riesenfehler bewahrt. Eine Affäre mit dem Sohn des Chefs? Undenkbar.

Sein Verhalten ihr gegenüber während der Autofahrt, auf dem alten Friedhof. Einerseits besorgt, andererseits lauernd. Das dämliche Rätselraten, dessen Sinn sie nach wie vor nicht verstand. War es nur ein Vorwand, um ihre Kündigung nichtig zu erklären? Steckte etwas anderes dahinter? Sie rollte sich auf den Bauch, drückte das Gesicht ins Kissen, um einen frustrierten Schrei zu unterdrücken. Der Abend, die Nacht, ein einziges Wirrwarr. Abermals durchlebte sie die wichtigsten Augenblicke in ihren Gedanken. Nichts ergab Sinn. Spielte Donn nur mit ihr? Wieso kümmerte es sie? Warum ausgerechnet er? Erst gab er ihr das Gefühl, unerwünscht zu sein. Dann belästigte er sie und behauptete, sie würde es sich wünschen. Andererseits war da sein verletzter Blick, als sie ihm an den Kopf warf, dass sie ihn hasste. Entsprach das der Wahrheit? Sie schluckte schwer. Wo steckte er in diesem Augenblick?

Der Türmechanismus summte, wie wenn jemand von außen eine Karte hineinsteckte, um die Tür zu öffnen. Lissa setzte sich im Bett auf, zog die Decke bis zum Hals. Cassandra? Kam die Kollegin vorbei, um ihr die Leviten zu lesen? Wer sollte es sonst sein? Die Zimmertür schwang geräuschlos auf. Ein Tablett, gehalten von großen Männerhänden.

„Guten Morgen Sonnenschein, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Dann brauchst du nicht runter in den Frühstücksraum." Andhaka stellte seine Fracht auf dem kleinen Couchtisch ab. „Du siehst aus wie drei Tage Regenwetter. Stört es dich, wenn ich mich setze?" Lissa schüttelte stumm den Kopf. Der große Mann sah nicht so aus, als ob er sauer auf sie wäre. Sie beobachtete, wie er sich auf das Sofa setzte und ein Brötchen aufschnitt. „Butter mit Honig drauf?"

„Ja, Danke." Ihre Stimme hörte sich fremd in ihren Ohren an. Kratzig, rau. Andha sah hoch, musterte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Wie gut, dass ich dir auch Kräutertee und Orangensaft mitgebracht habe. Hat der Idiot dich letzte Nacht zur Strafe in einen Wald verschleppt?" Sie zuckte unmerklich zusammen. Woher wusste er das? Oder zog Donn dies mit jeder Frau ab, die nicht nach seiner Pfeife tanzte.

„Alter Friedhof außerhalb der Stadt. Wir kamen gerade zurück, als wir ein brennendes Gebäude bemerkten." Dass sie danach bei Hadal mitfuhr, unterließ sie zu erwähnen. Das warf nur unnötige Fragen auf.

„Ein Krankenhaus. Mindestens zehn Tote. Donn traf eben ein, als ich dein Frühstück geholt habe. Er hat nur etwas getrunken und sich dann in seine Wohnung im Penthouse verzogen." Andhaka schmierte in Seelenruhe das Brötchen, ohne eine Gefühlsregung wegen der Verstorbenen zu zeigen, während hingegen ihr Herz verkrampfte.

„Zehn Tote?", wiederholte sie langsam seine Aussage.

„Ja, alles von der Palliativstation. Der Tod hat sie einige Tage eher geholt als ursprünglich geplant. Der Rest wurde rechtzeitig evakuiert. Aber weißt du was?" Er lächelte verschmitzt. „Der Brandstifter hat sich selbst bei der Aktion so schwere Verletzungen zugezogen, dass er es nicht überlebt hat." Er hielt ihr schmunzelnd den Teller hin. „Komm, iss etwas. Nach dem Frühstück versuchst du endlich mal, ein wenig zu schlafen."

„Du hast recht." Sie gähnte. Müdigkeit überschwemmte sie wie eine Flutwelle. Nach dem Essen würde sie sich im Bett zusammenrollen. Die Erlebnisse des vergangenen Abends und der Nacht Revue passieren zu lassen, forderten ihren Tribut. Schlaf würde über sie kommen, ob sie dafür bereit war oder nicht.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt