„Das ist doch ein schlechter Scherz von dir!" Fassungslos starrte Lissa den hochgewachsenen Mann an. Das konnte er nicht ernst meinen. Das war völlig ausgeschlossen.
„Du hast Engelsblut durch deine Adern fließen, also wirst du auch Flügel haben", erklärte Luriel ihr zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag mit einer Engelsgeduld, die seinesgleichen suchte. „Also Shirt aus. Wenn du erst einmal gewöhnt bist, die Schwingen auszufahren, wird Kleidung für dich kein Hindernis mehr sein. Dann tust du dir weder weh noch zerfetzt du das, was du am Leib trägst. Aber zum Üben muss sie aus."
„Wenn Donn uns erwischt, bringt er dich um", murmelte sie und wandte sich vom Engel ab. Grummelnd zog sie das Shirt aus und warf es auf den Boden. Ihr BH-Top folgte zügig. „Und was jetzt?"
„Stell dich mit geradem Rücken hin. Ich möchte dir etwas bewusst machen, dafür muss ich dich leider berühren." Er atmete tief durch. „Erlaubst du mir das?"
„Meinetwegen," brummte sie, „aber wenn Donn uns so sieht, garantiere ich für nichts." Sie streckte den Rücken durch und starrte die gegenüberliegende Wand an.
„Keine Sorge. Ich habe deinem zukünftigen Schwiegervater von meinem Plan erzählt. Er hat Azrael weggeschickt, damit wir in Ruhe üben können."
„Wieso nennst du ihn eigentlich noch immer Azrael?" Lissa spürte, wie Luriel hinter sie trat, und mit den Zeigefingern auf ihrem Rücken neben den Schulterblättern entlangfuhr. Etwas schien sich unter ihrer Haut zu strecken, diese zu denen. Es war ungewohnt, aber nicht unangenehm.
„Weil es sein Name war, als ich ihn kennengelernt habe. Vielleicht nutzt er ihn nicht mehr, damit man ihn nicht für den Kater von Gargamel hält. Atme jetzt bitte tief ein." Der Engel erhöhte den Druck, zog dann seine Hände zurück. „Wusste ich es doch", rief er triumphierend aus.
„Was ist?", fragte sie nervös. Sie ahnte die Antwort, denn das seltsame Gefühl bei ihren Schulterblättern nahm nicht ab. Es verstärkte sich eher.
„Du hast eindeutig Flügel. Du musst nur lernen, sie auszufahren und zu benutzen. Flugunterricht kann allerdings Azrael dir geben. Zu Anfang neigt man dazu, seine neugewonnenen Fähigkeiten zu überschätzen, und baut dementsprechend auch mal einen Unfall. Dein Freund und ich haben oft genug einen Baumwipfel gestreift oder sind mit anderen Engeln zusammengestoßen. Wenn du dir meinetwegen auch nur einen Kratzer holst, schmeißt er mich lebendig in die Seelensuppe. Das Risiko gehe ich nicht ein."
„Verständlich", brummte Lissa. „Aber wie fahre ich sie nun aus?"
„Mach mal einen Rundrücken und stell dir vor, wie die Schwingen langsam aus deinem Rücken hervorfahren. Ich bin mir sicher, du hast das oft genug bei deinem Demnächstehemann gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es dir nie gezeigt hat. Immerhin ist er der einzige Engel mit schwarzen Flügeln. Ist wohl der Vorteil, wenn der Vater ein Fürst der Dunkelheit ist."
Lissa beugte sich wie angewiesen vor. Erneut bewegte sich etwas unter ihrer Haut. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als es ohne Vorwarnung hindurch schoss und die Schwingen sich hinter ihrem Rücken entfalteten.
„Schade, auch nur weiß. Aber war ja nicht anders zu erwarten", kommentierte Luriel trocken.
„Nett, dass dich nur das interessiert, aber du nichts dazu sagst, dass ich es geschafft habe", brummte Lissa. Zumindest ein kleines Lob hatte sie erwartet.
„Weil ich wusste, dass du es mit ein wenig Unterstützung schaffst. So klug, wie du bist, hättest du es bald allein herausgefunden. Versuche mal, ein wenig mit ihnen zu schlagen. Nicht zu schnell, sonst klebst du gleich an der Decke. Das gibt nur Kopfschmerzen. Damit habe ich Erfahrung."
„Hast du deshalb nur irgendwelche dämlichen Aufträge von deinem ehemaligen Chef erhalten?" Lissa bewegte vorsichtig ihre neuen Körperteile. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie mit den Flügeln einen Windhauch verursachte.
„Nein, das hing mit meiner zweifachen Insubordination zusammen. Einmal habe ich versucht, Azrael zu schützen. Ein weiteres Mal habe ich eine junge Frau davon abgehalten, Selbstmord zu begehen, obwohl ihr Name in Azraels Büchlein stand. Die Frau wurde später eine sehr erfolgreiche Hexe, die die Aufmerksamkeit des Teufels weckte."
„Und die dritte Insubordination hat dich fast dein Leben gekostet", fügte Lissa hinzu. Sie bewegte die Flügel etwas schneller. „Guck, ich kann schweben."
„Das ist ja wohl ein schlechter Scherz", hörte sie Donn ausrufen. Sie schaute über die Schulter und sah, wie ihr Freund sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Da war er wohl etwas eher als geplant heimgekehrt. Luriel nutzte den Moment der Verwirrung und schlich sich aus dem Raum. Es war ihm nicht zu verdenken, denn wer wollte sich schon mit dem Tod persönlich in denselben vier Wänden aufhalten und erklären, warum dessen Freundin halbnackt einige Zentimeter über dem Fußboden schwebte?
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...