Am Abend lag Lissa mit Kopfschmerzen im Bett. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht, das Jobangebot, Cassandras seltsames Verhalten. Alles schwirrte in ihrem Kopf herum, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Seufzend setzte sie sich auf, lauschte auf die Geräusche im Haus. Leises Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Noch friedlich, doch im Laufe der Nacht würde es sich wieder anhören, als sägte jemand mit einer Motorsäge einen ganzen Wald um. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Die Mutter lag aller Wahrscheinlichkeit mit Ohrstöpseln neben dem Vater. Beide schliefen somit fest, bekämen es nicht mit, wenn sie das Haus verließ und im Mondenschein spazierte.
„Vielleicht hilft mir etwas frische Luft, um meine Gedanken zu sortieren." Das Mädchen schlüpfte in Jeans und Sweatshirt. Leise wie eine Katze schlich sie die alte Holztreppe hinunter, die Füße vorsichtig aufsetzend, die knarzenden Stufen auslassend. Unten schnürte sie ihre Sneaker, warf sich eine Jacke über und trat nach draußen. Ein kühler Wind begrüßte sie, spielte mit ihren offenen Haaren. Fröstelnd zog sie sich die Kapuze über den Kopf.
„Na klasse, gestern schwitze ich mich halbtot, heute friere ich mir den Hintern ab", murrte sie, verstaute die Hände in den Jackentaschen. Mit schnellen Schritten lief sie den Bürgersteig entlang Richtung Park. Der Vollmond leuchtete ihr den Weg. Nur kurz verdunkelte etwas sein Licht. Ein Schatten, der über sie hinweg zu huschen schien. Beobachtete sie jemand? Lissa hielt inne, drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Die Straße war wie ausgestorben. Außer ihr trieb sich niemand draußen herum. Alle schliefen sie brav in ihren Häusern oder schauten noch etwas fern. Keiner war hinter ihr her. Sie setzte beruhigt ihren Weg fort. Ein Flattern über ihr, wie von kräftigen Flügelschlägen, riss die Kapuze von ihrem Kopf. Stirnrunzelnd sah sie hinauf zum pechschwarzen Himmel. Still um sie herum. Nicht mal das Piepsen einer Maus oder das Rascheln einer streunenden Katze im Müll war zu hören.
„Jetzt bilde ich mir auch noch ein, dass ich von Gespenstern verfolgt werde." Sie überquerte die Straße, die sie von ihrem Ziel trennte. Das rostige Tor zum Park quietschte in seinen Angeln, als sie es aufschob, sie durch die entstandene Lücke hindurchzwängte. Lissa folgte dem ausgetretenen Pfad zu der Wiese, wo sie in ihrer Kindheit oft gespielt hatte. Eine unbesorgte Zeit trotz des geringen Einkommens ihrer Eltern. Damals hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, wie hart das Leben in Wirklichkeit war. Kopfschüttelnd lief sie zu der alten Holzbank, deren Sitzfläche rau und von feinen Farbsplittern übersäht war. Sie kletterte hinauf, setzte sich auf die Lehne. Die Grasfläche lag vom Mondlicht in ein eigentümliches Silber getaucht vor ihr. Erneut hörte sie kräftige Flügelschläge, dieses Mal hinter ihr. Eine Eule oder ein Uhu womöglich. Andere Nachtvögel lebten hier nicht.
Das Mädchen atmete die kühle Nachtluft ein. Der Wind störte sie nicht mehr. Dank der Jacke war ihr Rücken angenehm warm. Zum ersten Mal seit über vierundzwanzig Stunden war sie entspannt. Keine seltsamen Menschen huschten um sie herum. Niemand, der etwas von ihr erwartete. Lächelnd betrachtete sie die Grashalme, die im Mondlicht nur für sie tanzten. Zweige knackten leise hinter ihr, doch sie maß dem keine Bedeutung zu. Irgendein nachtaktives Tier, keine Bedrohung. Die Wärme nahm zu. Sie fühlte sich fast schon geborgen. Warum war das Leben nicht immer so? Ein leiser Seufzer entglitt ihr. Gleich darauf presste ihr jemand eine Hand auf den Mund.
„Genießt du diese Nacht genauso wie ich?", raunte ihr eine junge Männerstimme ins Ohr. Lissa versteifte, wagte es nicht, sich zu rühren. Ihre Stirn pochte schmerzhaft.
„Entschuldige, ich wollte nur verhindern, dass du mit einem Schrei die Ruhe zerstörst." Die Hand verschwand. Stattdessen kletterte der Übeltäter auf die Bank, setzte sich neben sie auf die Lehne. „Meine Mutter sagte einmal, dass Menschen, die zu lange den Mond ansehen, mondsüchtig werden. Glaubst du, das könnte stimmen?" Der Mann stieß einen Seufzer aus, schien mit sich und der Welt zufrieden, obwohl er sie fast zu Tode erschreckt hatte. Dennoch nahm sie es ihm nicht übel. Er wirkte auf sie nicht wie ein Krimineller, ein Tunichtgut. Stattdessen fühlte sie sich in seiner Gegenwart ungewohnt sicher, als wenn er bereits ihr ganzes Leben auf sie aufpasste. Sie musterte ihn kritisch oder besser gesagt, den Teil seines Gesichts, das sie im Mondlicht sah. Er hatte ihr seine linke Seite zugewandt, starrte nun auf die Wiese wie sie kurz zuvor. Sie schluckte. Seine Züge waren ebenmäßig, die Lippen sanft geschwungen, die Nase fein und gerade. Nicht wie die Jungen am College, sondern viel ansprechender. Lissa wandte den Blick ab, räusperte sich.
„Ich glaube nicht, dass man mondsüchtig werden kann. Das ist nur eine alte Legende aus längst vergessenen Tagen."
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...