Lissa starrte missmutig auf den leeren Chefsessel auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches. Hadal hatte sie in sein Büro beordert, um etwas mit ihr zu besprechen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fünfzehn Minuten nach vier. Eine Viertelstunde wartete sie bereits auf ihren Chef und was er ihr zu sagen hatte. Eine elendig lange Zeit, in der sie sich das Hirn zermarterte, womit sie sich diesen Termin eingehandelt hatte. Cassandra hatte ihr die Botschaft überbracht, begleitet von einem dümmlich wissenden Grinsen ihres Kollegen.
„Du wirst es schon noch erfahren", äffte Lissa Donn nach, der sich geweigert hatte, ihr etwas über den Grund zu verraten. „Nicht hilfreich, du Arsch." Ebenso unbrauchbar wie seine kryptischen Antworten nach ihrer Heimkehr ins Hotel. Beim Gespräch in der Lobby hatte er nur Blödsinn von sich gegeben. Mit hinauf in sein Penthouse? Darauf hatte sie sich nicht eingelassen. Doch das hatte gleichzeitig seine Bereitschaft zerstört, ihr etwas über die angebliche Verwandlung zu erzählen. Sie vermutete, dass er ihr ein Märchen aufgebunden hatte. Es war nichts Außergewöhnliches an ihr. Nur ein simpler Trick, um sie mitzulocken. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Donn ihr den Termin bei seinem Vater eingehandelt. Mistkerl.
„Hallo Lissa." Sie zuckte zusammen. Wann war der eingetreten? Was hatte er vernommen? War sie so in Gedanken versunken, dass sie die Tür schlicht überhört hatte? „Es freut mich, dass du es einrichten konntest." Hadal umrundete den Schreibtisch und setzte sich an seinen Platz. Er stützte die Unterarme auf der Tischplatte ab und lehnte sich vor. „Ich wollte mich mit dir über dich und deine Stelle in meinem Unternehmen unterhalten. Wie du weißt, hatte ich dich mit der Hoffnung eingestellt, dass dein Ehrgeiz und deine Disziplin Donn ein wenig anstacheln, selbst mehr Karrierebewusstsein zu entwickeln." Er fixierte sie mit seinem Blick. Lissa schluckte. Was kam nun? War er zufrieden oder eher nicht? Sie wischte ihre Hände an der Hose ab. Die eintretende Stille schien begleitet zu werden von einer brütenden Hitze. Schweiß sammelte sich unter ihren Haaren, lief den Nacken hinab wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.
„Und? Funktioniert es?", durchbrach sie die Grabesstille. Ihre Beinmuskeln spannten sich, breit zum Aufspringen. Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite, schielte zur Tür.
„Willst du etwa schon wieder flüchten, Lissa?" Hadal lachte leise. „Du solltest mittlerweile verstanden haben, dass es dir nichts bringt. Ich habe nicht vor, dich noch einmal gehen zu lassen. Denn ja, deine Anwesenheit wirkt sich positiv auf meinen Sohn aus. Selbst besser, als ich zu träumen gewagt hatte."
„Dann verstehe ich nicht, warum ich hierhergerufen wurde." Sie wandte die Aufmerksamkeit wieder ihrem Boss zu, der sich lässig im Sessel nach hinten lehnte. Seine eisblauen Augen wirkten genauso kühl und unergründlich wie die seines Sohnes. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Wäre er Donn, würde sie sagen, er heckte etwas aus. Doch dies war ein gestandener Geschäftsmann.
„Ambitio." Verständnislos sah sie den Mann an, in dessen Augen es aufblitzte. „Ambitio, lateinisch für Ehrgeiz, eifrige Bemühung oder auch Eitelkeit. Genau übersetzt ist es das Umhergehen als Bittsteller, die Bewerbung um ein Amt, doch in dem Zusammenhang wird es heute nicht mehr verwendet. Schaue mich nicht so befremdet an. Bei den alten Römern liefen die Amtsanwärter in besonders weißen Togen umher, wenn sie um Wählerstimmen warben. Lassen wir das." Er stütze sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch auf, beugte sich vor. „Mich interessiert viel mehr, wonach du strebst. Was ist deine Ambition?"
„Meinen Eltern, die mich mit wenig Geld großgebracht haben, ein schönes Leben ermöglichen", erwiderte Lissa wahrheitsgemäß. „Deswegen habe ich mir Grafikdesign ausgesucht, damit ich genug für die Familie verdiene."
„Löblich, doch nicht die Antwort, die ich suche." Hadal strich sich über das Kinn, musterte sie einen Augenblick still. „Es muss doch etwas geben, in das du alle Energie steckst. Verstehe mich nicht falsch, deine Leistungen sind hervorragend. Aber ich vermisse da das gewisse Extra. Das Streben, immer besser zu werden. Du brennst nicht für das Grafikdesign, sondern hast es nur als Mittel zum Zweck gewählt. Es wäre zu schade, wenn du dafür deine Zeit vergeudest, wenn du auf einem anderen Gebiet weitaus höhere Erfolge erzielen kannst."
„Ich wüsste nicht, was mir mehr liegen sollte", murmelte Lissa entmutigt. Waren seine Worte ein Hinweis, dass sie noch härter arbeiten sollte? Dafür lenkte Donn sie zu oft von den Tätigkeiten ab. Dazu kam, dass von ihr erwartet wurde, ebenfalls ihre Freizeit mit den Kollegen zu verbringen. Der Job spannte sie mittlerweile so viel ein, dass sie kaum zum Lernen kam. Sie atmete tief durch. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, vermisste sie das stundenlange Pauken nicht und bisher litten ihre Zensuren nicht darunter, sondern waren durch die Praxiserfahrung eher noch besser.
„Du brauchst mir nicht direkt eine Antwort zu geben, Lissa." Hadals Miene entspannte sich, die Gesichtszüge weicher. „In einem Monat besprechen wir das Thema wieder. Ich wünsche, dass du dir bis dahin Gedanken machst, was deine Ambitionen weckt. Oder meinetwegen nur eine Ambition. Du kannst jetzt gehen." Er nickte ihr freundlich zu. Sie sprang auf, eilte zur Tür, um möglichst schnell Abstand zu gewinnen. „Ach Lissa," rief er ihr zu, kurz bevor sie den Raum verließ, „schicke doch bitte Donn zu mir. Ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen."
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...