„Wolltest du dich nicht mit Heilpflanzen beschäftigen?" Donn ließ sich neben Lissa aufs Sofa fallen und betrachtete den Blumentopf, der vor ihr auf dem Tisch stand. Sein Blick glitt über die Pflanze. Vom langen Blütenstiel zum gestielten, fingerförmigen Grundblatt hinauf zu der weißen Blüte, in der zahlreiche Staubblätter mit weißen Staubfäden und gelben Staubbeuteln wie kleine Zinnsoldaten standen. „Ein Buschwindröschen, wenn ich mich nicht irre. Ein Frühblüher, den man oft in Wäldern antrifft, wenn die Bäume im Frühling noch kein Laub tragen. Der dürfte es hier drinnen nicht gefallen."
„Andhaka hat sie mir mitgegeben, weil ich sie zeichnen wollte. Die Heilpflanzen habe ich anhand der Fotos, die ich im Gewächshaus geschossen habe, schon erledigt." Lissa packte einen Stapel Blätter, der neben ihr lag, und reichte diesen an den Sohn ihres Chefs weiter.
„Ausgezeichnete Arbeit. Fotografieren kann jeder, aber so detailgetreu zu zeichnen, das bekommen nicht viele hin. Vater wird zufrieden sein." Donn legte die Zeichnungen behutsam zur Seite, um sie nicht zu verknicken. „Schön, dass du wieder Freude am Malen hast. Wenn du Andhaka lieb bittest, lässt er dich bestimmt seine Staffelei benutzen. Cassy lässt er da ja nicht ran."
„Das würde mich schon reizen, aber," Lissa seufzte leise, „ich kenne mich leider überhaupt nicht mit Ölfarben aus. Ich habe bisher entweder Buntstifte oder Wassermalfarben verwendet."
„So, wie ich unseren großen Softie kenne, bringt er es dir gerne bei. Müssen wir nur einen Weg finden, wie du dafür mehr Zeit bekommst. Aber notfalls rede ich mit meinem Vater. Einige der Landschaftsbilder im Unternehmen stammen von Andhaka. Wenn du abstrakte Sachen wie zum Beispiel die Bilder von Salvador Dalí malen kannst, schaufelt er dir so viel Zeit frei, wie du haben möchtest."
„Das würde mich schon reizen, aber ich kann dich doch nicht mit der ganzen Arbeit allein lassen." Ihr Blick wanderte von Donn zu der Pflanze. „Sag mal, woher weißt du überhaupt, dass es sich um ein Buschwindröschen handelt? Lernt man das in der Dämonenschule?"
„Nein, das lernt man, wenn man sich einige Jahrhunderte in Europa herumgetrieben hat, um die sterbenden Seelen auf den Schlachtfeldern einzusammeln. Wusstest du, dass die Pflanze im frischen Zustand giftig für das Vieh ist? Betrifft übrigens auch alle anderen einhundertfünfzig Sorten der Gattung Windröschen. Oder der Anemonen, wie sie auch genannt werden."
„Anemone? Ich dachte immer, dass wäre die Bezeichnung für eine Tierart, die in den Ozeanen lebt."
„Dafür wird der Begriff ebenfalls verwendet. Seeanemonen, die zu den Blumentieren zählen. Allerdings leben sie im Gegensatz zu ihren Verwandten, die man gern mal in Kolonien antrifft, solitär. Clownfische verstecken sich bevorzugt zwischen ihnen, um Raubfischen zu entgehen. Dafür schützen sie die Anemonen vor Fressfeinden." Er musterte Lissa einen Augenblick, zog fragend eine Augenbraue hoch. „Ist etwas nicht in Ordnung?"
„Nein, nein, alles prima. Es fasziniert mich nur, wie viel du weißt. Das hast du anfangs nicht durchschimmern lassen."
„Da war ich viel zu sehr damit beschäftigt, dich wegekeln zu wollen." Donn seufzte leise. „Ich habe dich oft beobachtet, ab dem Moment, an dem du laufen lerntest und deine Großmutter dich mit in den Park nahm. Auch später, als du größer wurdest und auf der Bank bei der Wiese über deine Mitschüler geschimpft hast. Ich war immer dort, um dich zu beschützen. Doch als du in der Firma auftauchtest, wurde ich brutal mit meinem Fehler konfrontiert." Der Mann verstummte, stützte den Kopf in den Händen ab. Er verbarg sein Gesicht, als ob er sich für seine Taten schämte.
Lissa beugte sich zu ihm. „Siehst du es noch immer als Fehler an, dass du mich damals gerettet hast?" Unsicherheit schwang in ihrer Stimme mit. Sie sehnte sich nach seiner Aufmerksamkeit, seiner Zuneigung, wie sie sich selten nach etwas gesehnt hatte. Ohne ihr Zutun hatte es sich im Verlauf der Monate so entwickelt, obwohl sie ihn anfangs am liebsten für sein Verhalten getreten hätte.
„Nein, ich bereue nur, dass ich dich nicht von Anfang an auf Händen getragen habe. So wie du es verdienst." Er sah auf, suchte Blickkontakt zu ihr.
Lissa spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, wie ihre Wangen glühten. Verlegen senkte sie ihren Blick, zog mit den Zähnen an ihrer Lippe.
„Tu das nicht." Behutsam drückte er ihr Kinn wieder hoch, beugte sich gleichzeitig vor. Ein wohliger Schauer lief durch ihren Körper, als Donn sie sanft auf den Mund küsste. Vergessen war die Zeichnung der Anemone oder die Gemeinheiten, die er ihr an den Kopf geworfen hatte. Jetzt zählte nur noch der Augenblick.
DU LIEST GERADE
Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...