Altweibersommer

31 6 0
                                    


Seufzend ließ sie den Blick über die Einrichtung gleiten. Alles war fein säuberlich in Kartons verpackt. Die Schränke und Regale wirkten ohne ihren Inhalt wie Totengerippe. Der ganze Raum war seines Charakters beraubt. Eine einst blühende Wiese in eine Wüste verwandelt. Nur blanke Knochen waren zurückgeblieben. Bald würden die Totengräber kommen, um sie zu verscharren, dachte sie bitter. Lissa schaute ein letztes Mal aus dem Fenster ihres ehemaligen Kinderzimmers. Der Herbst färbte die Blätter an den Bäumen bunt. Leuchtendes Rote neben strahlendem Gelb. Ein Farbenspiel, das sie in ihrer Kindheit geliebt und das sie zum Malen eingeladen hatte. Doch heute erinnerte es sie eher an den bevorstehenden Winter mit seiner eisigen Kälte. Die Zeit, in der die Natur zum Erliegen kam und die Pflanzen starben.

„Schatz, kommst du?", rief ihre Mutter von unten. „Die Möbelpacker sind da."

Lissa schloss die Augen, atmete tief durch. Natürlich war das Zimmer nicht mit ihrer und Donns Wohnung zu vergleichen, doch hier hatte sie so viel erlebt, so viel Jahre verbracht. Träume geträumt, mit ihren Eltern gelacht, verbissen für die Schule gelernt, die ein oder andere Träne vergossen. Sie verstand, dass ihre Mutter das Elternhaus verkaufte. Ein Investor hatte ihr und den Nachbarn der umliegenden Häuser ein solch verlockendes Angebot gemacht - obendrein für Wohnraum gesorgt, wo Einkaufsgelegenheiten und Ärzte im Laufabstand lagen - sodass es töricht gewesen wäre, es nicht anzunehmen. Dennoch versetzte es ihr tausend kleine Nadelstiche mitten ins Herz, dass hier bald alles mit dem Erdboden gleichgemacht wurde.

„Lissa, wo bleibst du? Dein Freund ist da." Ihre Mutter klang aufgeregt. Nicht im Negativen. Sie hatte es Donn schnell vergeben, ihm sogar dafür gedankt, dass er ihren Mann von den Schmerzen erlöst hatte. Nein, etwas anderes schwang in der Stimme der Frau mit, die sie an diesem Ort großgezogen hatte.

„Ich komme schon." Sie schnappte sich ihre Tasche, die am Türgriff hing und lief die knarzende Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen. Nie wieder würde sie auf Zehenspitzen über die Treppenstufen huschen, um ihre Eltern nicht zu wecken. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge.

„Geh mal zur Seite, Lissa." Zwei Pranken packten sie an der Hüfte, hoben sie mühelos hoch. Andhaka, der in Shirt und Jogginghose gekleidet war.

„Ich geh schon mal hoch. Ich hoffe, du trödelst nicht wieder." Aswa schob sich an ihnen vorbei nach oben, um Kartons oder Möbel zu holen.

„Ihr seid die Möbelpacker?" Lissa blinzelte verwirrt. Sie hatte vieles erwartet. Nicht aber, dass ihre Kollegen auftauchen würden, um ihrer Mutter beim Umzug zu helfen.

„Befehl vom Boss. Immerhin hat er das Haus gekauft und gehören ihm die Wohnungen, in die die Menschen umziehen werden." Es knallte im Obergeschoss, dicht gefolgt von einem herzhaften Fluch. „Ich helfe ihm mal lieber, bevor er die Bude auseinandernimmt." Andha stellte sie auf ihre Füße und folgte dem Dämon, der weiterhin über die niedrigen Durchgänge schimpfte.

„Das verstehe ich nicht", murmelte sie. Ein wenig schwindlig von der Neuigkeit taumelte sie rückwärts. Ein Arm schlang sich um ihre Taille.

„Dann wird es Zeit, dass ich dir bei einem Spaziergang alles erkläre", wisperte Donn ihr ins Ohr. Er führte sie aus dem Haus, grüßte freundlich ihre Mutter, die ihnen lächelnd zunickte. „Dein Lieblingsplatz?"

„Gerne." Sie knabberte auf ihrer Lippe. Die Herbstsonne wärmte sanft ihre Wangen. „Dein Vater hat mein Elternhaus und all die anderen gekauft?"

„Das hat er. Da wir Ana nicht wandeln werden, bevor sie erwachsen ist - um ähnliche Reaktionen wie bei dir besser einschätzen zu können - hat er beschlossen, auf diesem Areal einen Zufluchtsort für Kinder einzurichten, deren Eltern wir holen mussten und auch weiterhin holen müssen."

„Es gibt noch mehr wie mich?" Lissa starrte auf die Herbstastern, die jemand im Park gepflanzt hatte, und die ihre Blüten den Sonnenstrahlen entgegenstreckten.

„Wie du? Nein. Aber wir können davon ausgehen, dass zumindest Ana von ihnen manipuliert wurde. Das ist notwendig, um aus ihr eine Kriegerin des Lichts zu machen. Eine beliebte Taktik, mit der sie ihre Armeen erweitern." Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Sie werden Ana genauso wenig bekommen wie dich. Unsere Leute sind für das Thema sensibilisiert. Du weißt, dass ich nicht alle Seelen allein sammeln kann. Das wären zu viele auf der Welt. Daher habe ich ein Heer von Helfern, das sie unermüdlich einsammelt. Sollte jemand ein Kind finden, das von der Norm abweicht, wird es hierher gebracht werden, um in Sicherheit aufzuwachsen. Manche werden wir später, auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, wandeln. Andere werden später als normale Erwachsene weiterleben. Niemals dazu gezwungen, für die eine oder die andere Seite zu kämpfen."

Eine Last fiel von Lissas Schultern. Tief einatmend nahm sie die Farben des Herbstes und die Wärme der Sonne in sich auf. Das Wissen, dass sie und ihre Freunde Kinder wie Ana beschützten, versöhnte sie mit dem diesjährigen Altweibersommer. Seine bunten Blätter standen wieder für Hoffnung und Lebensfreude – wie in ihrer Kindheit.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt