Verwandlung

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Lissa schlug die Fingernägel in Donns Handrücken, doch weigerte er sich weiterhin, sie loszulassen. Die Umklammerung wurde eher fester. Entnervt schnaubte sie.

„Hast du es bald mal." Sie ließ die Arme kraftlos nach unten sacken und lehnte sich nach hinten an ihren Kollegen. Seine Körperwärme hüllte sie ein wie eine kuschlige Decke. Wieso war er nur ein so ausgezeichnetes Wärmekissen?

„Ich möchte nur verhindern, dass du mir doch noch wegläufst", schnurrte er ihr ins Ohr wie ein überdimensionaler Kater. „Wir könnten wieder reingehen, oder zu mir, in meine Wohnung." Er küsste sie sanft auf den Nacken.

„Das würde dir so passen", murrte sie. „Ich möchte einfach nur nach Hause. Ich bin müde, will ins Bett und nach dem Ausschlafen endlich mal in Ruhe lernen."

„Nach Hause also." Donn setzte sich in Bewegung, schob Lissa zu seinem Fahrzeug. So ganz traute sie der Sache nicht. Fuhr er sie dieses Mal zu ihren Eltern oder landete sie wieder im Hotelzimmer? „Dann steig mal ein." Sie zog die Nase kraus, folgte aber seiner Aufforderung.

„Aber wirklich nach Hause, oder?", hakte sie nach, musterte den Mann, der sich breit grinsend hinter das Steuer setzte, voller Argwohn.

„Natürlich. Wohin denn sonst?" Er startete den Wagen, lenkte diesen geschickt vom Parkplatz, über den einige Betrunkene torkelten. „Die haben Glück, dass sie noch nicht auf der Liste stehen", brummte er ungehalten, als er abrupt für ein mitten auf der Straße knutschendes Pärchen abbremste. Hupend scheuchte er sie auf den Bürgersteig.

„Du tust gerade so, als ob du über Leben und Tod entscheidest." Lissa schüttelte schmunzelnd den Kopf. An manchen Tagen war sein Größenwahn eine Nummer für sich. Da kamen selbst die bestbezahlten Schauspieler oder irgendwelche Politiker nicht einmal ansatzweise heran.

„Oh, die Liste erstelle ich nicht. Die Namen erscheinen darauf, wenn die Menschen an der Reihe sind zu sterben. Ich halte mich nur daran." Er atmete tief ein, gleich darauf geräuschvoll aus. „Nur einmal habe ich Mist gebaut. Eine Tatsache, mit der ich knapp achtzehn Jahre später immer wieder konfrontiert werde."

„Ist jetzt gerade Märchenstunde? Oder was wird das hier?" Sie musterte Donn nachdenklich. Das spärliche Licht der Straßenlampen huschte über die geschwungenen schwarzen Linien seines Tattoos. Sie erwischte sich bei dem Wunsch, sie mit den Fingerspitzen nachzufahren. Ehe sie sich versah, streckte sie den Arm aus. Seine Haut war brennend heiß, gleichzeitig angenehm weich unter ihren Fingern. Er neigte den Kopf, schien die Berührung zu suchen. Lissa strich ihm über die Wange. Ein leiser Seufzer entwich ihm. Ermutigt von seinem Verhalten spielte sie mit seinen Haarspitzen.

„Alissa, du treibst mich noch in den Wahnsinn." Seine raue Stimme bescherte ihr eine Gänsehaut. Wie hatte er sie gerade genannt? Lissa riss die Augen weit auf. Wie war das möglich? Niemand sonst kannte den Namen, den ihre Eltern ihr bei der Geburt gegeben hatten.

„Woher?" Sie brachte den Rest des Satzes nicht über ihre Lippen. Was, wenn er sich nur vertan hatte? Aller Voraussicht nach hatte er mal eine Freundin, die so hieß. Ein Betthäschen. Lissa zog ihre Hand zurück, wandte sich von Donn ab. Angestrengt starrte sie aus dem Seitenfenster.

„Ich weiß so vieles über dich, Alissa." Er lachte auf. „Du standest auf der Liste, als du zwei Monate alt warst. Ein Baby, geboren, um zu sterben. Plötzlicher Kindstod. Zu sterben ist in manchen Fällen ein begleiteter Prozess. Meist, wenn der Sterbende sich nicht aktiv dafür entscheiden kann. So wie bei einem Kind, das das Konzept von Leben und Tod noch nicht versteht." Donn löste eine Hand vom Steuer, drückte sanft ihr Bein. „Ich habe damals deinen Namen falsch ausgesprochen, damit eine nicht zu stoppende Kettenreaktion ausgelöst. Ich spüre, dass du zweifelst. Dann sage mir doch, wie oft warst du in deinem Leben krank?"

„Ich." Lissa runzelte die Stirn. Seine Worte verwirrten sie. „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht daran."

„Weil du es nie warst. Nicht nach deiner Verwandlung, an der ich Schuld habe. Du dürftest nicht existieren und doch tust du es." Er seufzte abermals. „Doch das Schlimmste daran ist, dass du damit auf einer Stufe stehst wie der Rest in der Firma, Alissa. Du bist in der Nacht zu einer von uns geworden und gleichzeitig auch nicht."

„Was meinst du damit?" Ihr Herz pochte hart in ihrer Brust. Ihr Verstand weigerte sich, seinen Worten zu glauben. Doch in ihrem Innern breitete sich eine nie zuvor gekannte Gewissheit aus. All ihre Freunde, jeder Mensch, den sie kannte, war immer mal wieder an einer Erkältung oder etwas Anderem erkrankt. Nur sie nicht. Wie die Kollegen in Hadals Unternehmen. In den ganzen Wochen hatte nicht einer wegen Krankheit gefehlt. Höchstens, weil er übernächtigt war. „Was bin ich? Was seid ihr?" Sie krallte die Fingernägel in den Autositz. Donn bremste scharf ab.

„Das, werte Alissa, erzähle ich dir ein anderes Mal. Erst will ich verstehen, was mein Fehler damals genau angerichtet hat." Er schnallte sie ab. „Los, geh ins Bett. Du solltest schlafen." Lissa drehte den Kopf zum Haus, vor dem sie standen. Ihrem Elternhaus. Schlafen, sagte er. Wie denn? Sämtliche Müdigkeit war mit einem Schlag verschwunden, hatte ihren Körper ruckartig verlassen.

„Nein." Sie schnallte sich wieder an. „Fahren wir zum Hotel. Dort erzählst du mir, was es mit dieser Verwandlung auf sich hat."

„Wie du wünscht, Alissa." Ein Lächeln umspielte seinen Mund.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt