Apathie

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Luriel lag bewegungslos in seinem Bett, den Blick desinteressiert auf die Zimmerdecke gerichtet. Hadal hatte ihm die Wohnung unter der von Lissa und Donn überlassen, nachdem der Engel so weit stabilisiert war, dass er aus der ärztlichen Versorgung der Hölle entlassen werden konnte.

„Hat er noch Schmerzen?", fragte sie die zwei Dämonen, die ihn gebracht hatten.

„Nein, seine Wunden sind verheilt. Nur mit seinen Flügeln wird es etwas dauern, bis er sie wieder benutzen kann." Die Männer wandten sich zur Tür.

„Er wird wieder fliegen können?" Lissa starrte ungläubig auf den Engel. Sie erinnerte sich an den Augenblick, kurz nachdem Aswa und Andhaka ihn aufgefangen hatten. Die schrecklich verkohlten Stummel seiner Schwingen. Der Geruch von verbrannten Federn, der sich ihr eingebrannt hatte.

„Das liegt ganz an ihm." Der ältere Dämon zuckte mit den Achseln. „Er braucht jetzt Ruhe und viel Zeit zum Nachdenken, um das Geschehene zu verarbeiten. Es wäre gut, wenn sich jemand um ihn kümmert." Er nickte ihr zu und zog dann die Tür hinter sich ins Schloss.

Stille kehrte im Raum ein. Lissa drehte sich zum Bett um. „Luriel? Kann ich etwas für dich tun?" Keine Reaktion. Sie setzte sich neben ihn auf die Matratze. „Wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, kannst du es mir ruhig sagen." Wieder nichts. Sie fluchte innerlich.

Donn und auch Hadal hatten sie davor gewarnt, dass er in eine Starre verfallen würde. Hervorgerufen von dem Schock, den der Rauswurf aus seinem Zuhause verursacht hatte. Kein Wunder, hatten die Mistkerle ihm doch seine wunderschönen Flügel abgefackelt. Der Sturz in die Tiefe, ohne Möglichkeit ihn zu verhindern, hatten dafür gesorgt, dass der Mann sich in sein Innerstes zurückgezogen hatte.

„Wie hole ich dich nur aus dieser Apathie raus?", murmelte sie. „Du hast mir geholfen, dem durchgeknallten Greis und seinen Generälen zu entgehen. Nur deinetwegen hat Donn mich retten können. Ohne deine Hilfe säße ich noch immer in diesem grässlichen Wolkenkuckucksheim fest. Entschuldige bitte." Sie streichelte ihm über die Wange. „Ich wollte dein altes Zuhause nicht beleidigen. Es regt mich einfach so auf, was sie dir angetan haben." Sie verstummte, dachte an Ana, die sich nach ihrem Schutzengel sehnte.

Lissa hatte vorgehabt, die Kleine zu holen. Doch der momentane Zustand des Engels schreckte sie ab. Wie sollte sie dem Kind erklären, dass er sich in einer Schockstarre befand? Seine Apathie würde sie erschrecken, vielleicht noch mehr als sein Sturz vom Himmel. Jemand klopfte leise an die Tür.

„Es ist offen", rief sie, ohne den Blick von dem teilnahmslosen Mann zu nehmen. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Er war nur ein Schatten seiner selbst. Nicht vergleichbar mit der Person, die sie gekidnappt und dann freigelassen hatte. Der Engel, der Donn als seinen Freund bezeichnete. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter.

„Warum weinst du?" Die zarte Kinderstimme ließ sie herumfahren. Ana stand vor dem Bett. Samael, der am Türpfosten lehnte, nickte Lissa lächelnd zu. Dann drehte der gefallene Engel sich um und verschwand.

„Deinem Schutzengel geht es nicht gut", erklärte sie dem Mädchen. „Er braucht jetzt viel Ruhe. Wir sollten lieber gehen."

„Nein, er braucht jetzt mich", erwiderte die Kleine resolut. „Sonst hat er über mich gewacht, jetzt passe ich auf ihn auf." Sie streifte sich die Schuhe von den Füßen und krabbelte aufs Bett. Sie zupfte an der Bettdecke. „Du musst aufstehen, damit ich runter kriechen kann", teilte sie Lissa fordernd mit.

Diese gehorchte seufzend. Ana stellte sich alles viel zu einfach vor. Niemand war bisher zu Luriel durchgedrungen. Nicht einmal Donn, der ihn seit Ewigkeiten kannte. Dementsprechend schaute sie stirnrunzelnd zu, wie das Mädchen unter der Decke verschwand und sich an ihren Schutzengel kuschelte. An den Mann, von dem ein Teil seines Blutes durch ihre Adern floss. Der Tod hatte ihre eigentlichen Eltern ereilt und doch weinte sie nicht um diese, wie sie um den Engel geweint und für seine Heilung gebetet hatte.

„Ich habe dich lieb", wisperte Ana. Sie berührte den Mann sanft an der Wange. „Du hast mich nach Mamas Tod getröstet, warst für mich da, als ich dich brauchte. Jetzt passe ich auf dich auf." Sie drückte sich noch enger an ihn.

Luriel rührte sich. Er drehte sich zum Kind. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen klar wurden und sie anfingen, vor Freude zu strahlen. Ein breites Lächeln, ein erleichterter Seufzer. Der Engel zog Ana auf seine Brust, hielt sie fest an sich gedrückt. Das Mädchen spielte kichernd mit seinen Locken.

Lissa zog sich langsam zurück. Sie wurde hier nicht gebraucht. Still betrachtete sie die beiden. Sie hatten einander, mehr benötigten sie nicht. Leise lief sie zur Tür und warf einen letzten Blick auf das friedliche Bild. Sie verstand, warum Samael die Kleine entgegen den Anweisungen hergeführt hatte.

Es brauchte ein Kind mit einer reinen Seele, um einen gefallenen Engel aus seiner Apathie zu befreien.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt