„Hallo Lissa. Warum ich dich heute hergebeten habe, dürfte dir bekannt sein, oder?" Hadal saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem er seine Ellenbogen abstützte, und führte die Handflächen zusammen.
„Nicht so wirklich." Sie nahm ihm gegenüber Platz und knetete nervös ihre Oberschenkel.
„Es besteht kein Grund zur Sorge für dich, ganz im Gegenteil." Er lächelte sie wohlwollend an. „Bei unserem letzten Gespräch habe ich dir ja gesagt, wie sehr ich deine Agilität schätze und mir wünsche, dass Donn sich an dir ein Beispiel nimmt. Durch einige Aktionen von Kasdeya und ihren Freunden wurdet ihr ja seitdem bei der Arbeit gestört. Dessen bin ich mir bewusst. Und da es so aussieht, dass wir sie vorläufig nicht benötigen, werde ich sie erst einmal wieder wegschicken. Das dürfte sich vor allem auf dich positiv auswirken, da sie es zumeist auf dich abgesehen hatten."
„Woher der Sinneswandel?", rutschte es ihr unüberlegt raus. Kaum hatte sie die Worte gesagt, schlug sie die Hände vor den Mund. Wie konnte sie sich nur so unverschämt ihrem Boss gegenüber verhalten? „Ich meine," fügte sie zögernd hinzu, „Donn schien nach der letzten Besprechung nicht gerade zuversichtlich, dass wir Kasdeya und ihre Schoßhündchen in naher Zukunft loswerden." Redete sie sich gerade um Kopf und Kragen? Vermutlich. Doch andererseits schätzte Hadal Aufrichtigkeit. Wenn er sie für ihr Benehmen nicht rauswarf, brauchte sie nur zu lernen, ihre Worte besser zu verpacken.
„Nun, man könnte sagen, mir hat jemand die Augen geöffnet. Sieh selbst." Er holte sein Chromebook aus der Schublade und tippte etwas ein. Dann drehte er es zu ihr um. Ein Video spielte ab, zusammengeschnitten aus verschiedenen Sequenzen. Einige Sabotageakte, für die sie von den Frauen die Schuld bekommen hatte. Kasdeya und ihre Freundinnen waren auf fast allen Ausschnitten deutlich im Bild.
„Aber, wer?" Lissa brach ab, zu verwirrend war es, was sie auf dem Bildschirm sah.
„Nun," begann Hadal in seinem üblichen Ton, den er bei geschäftlichen oder anderen ernsten Gesprächen einzusetzen pflegte, „Andhaka ist nicht nur für die Beleuchtung zuständig. Er hat auch ein herausragendes Wissen, wenn es um Videoüberwachung geht. Er kam vor einiger Zeit zu mir und erzählte mir das, was auch Donn mir zutrug. Dass Kasdeya dir das Leben schwer machte. Doch ohne Beweise konnte ich sie nicht wegschicken. Das wäre ein Vertragsbruch. Daher erlaubte ich Andhaka, einige Überwachungskameras zu installieren, allerdings so, dass sie für das bloße Auge nicht zu erkennen waren. Das Ergebnis siehst du hier."
„Das heißt, wir sind sie wirklich los?", fragte sie auf der Suche nach Bestätigung.
„Zumindest vorläufig. Sollte sich die Lage ändern und wir ihre Hilfe benötigen, dann kehren sie zurück. Unter verschärften Vertragsbedingungen." Er stand auf, schaute Lissa prüfend an. „Wieso bist du nicht selbst zu mir gekommen, um mir von dem Mobbing zu berichten? Vertraust du mir nicht?"
„Das schon, aber ich dachte, dass, wenn es Donn schon nicht gelingt, Sie davon zu überzeugen, die Gruppe wegzuschicken, es mir noch weniger gelänge. Wir hatten ja keine Beweise. Da hätte nur Aussage gegen Aussage gestanden." Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
„Ich verstehe. Dennoch wünsche ich mir, dass du in Zukunft zu mir kommst, wenn es zu einem ähnlichen Vorfall kommen sollte. Du bist eine wundervolle und kluge Angestellte und eine Bereicherung für mein Unternehmen. Ich dulde es nicht, wenn sich jemand dir gegenüber niederträchtig verhält. Verstanden?"
Lissa nickte ergeben. Weder hatte sie einen Rüffel für ihre flapsige Bemerkung erhalten, noch schimpfte er sie aus, weil sie nicht selbst zu ihm gekommen war. Das Problem mit Kasdeya und ihren Spießgesellen erledigte sich wie von selbst. Fehlte nur noch, dass sie und Donn einander endlich näher kamen. Seit er sich zuvorkommender verhielt, sehnte sie sich danach, Zeit mit ihm zu verbringen, wenn sie mal voneinander getrennt waren. Ein Wandel, der sie an manchen Tagen verwirrte. Doch war es nicht normal, für die Person Gefühle zu hegen, die einen Großteil ihrer Freizeit damit verbrachte, einen zu schützen?
„Ach Lissa, bevor ich es vergesse." Hadal riss sie aus ihren Überlegungen. „Schicke doch bitte Donn zu mir, wenn du zu deinem Arbeitsplatz zurückkehrst. Und auch Andhaka, falls du ihm unterwegs begegnest. Ich habe mit beiden etwas zu besprechen."
„Das werde ich. Und danke für das Gespräch." Sie verabschiedete sich höflich und lief zur Tür.
„Noch etwas Lissa, ich stelle dich die nächsten Tage frei, damit du Zeit mit deinen Eltern verbringen kannst. Wenn jemand dich begleiten soll, gib mir Bescheid. Ich bin mir sicher, dass Donn mittlerweile gelernt hat, auf dich acht zu geben und dir unterstützend unter die Arme greifen könnte. Solltest du lieber Cassandra mitnehmen, ist das natürlich auch in Ordnung."
Seine Worte verursachten ihr eine Gänsehaut. Wusste er, wie es ihrem Vater ging? Stand ein weiterer Wandel in ihrem Leben an?
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...