Schlummertrunk

38 9 0
                                    


„Kannst du mal wieder nicht schlafen?" Ihre Mutter sah vom Sofa hoch, als Lissa im Schlafanzug ins Wohnzimmer stolperte.

„Das kommt vom Stress. College und Job sind einfach zu viel für unsere Kleine", murrte ihr Vater, der in sich zusammengesunken in seinem Ohrensessel hing. Er musterte sie ausgiebig, dann seufzte er. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihn nicht annehmen. Wir sind bisher doch auch gut über die Runden gekommen." Lissa beobachtete, wie er sich mühsam aufrichtete. Mit einem Ächzen drückte er seinen müden Körper vom Sessel hoch, lief langsam auf sie zu. „Mäuschen, du musst das nicht tun. Ich schaffe das schon noch, bis du fertig bist." Er zog sie an seine Brust. Der vertraute Geruch seines Aftershaves hüllte sie ein. Wie in ihrer Kindheit, wenn sie Trost bei ihm gesucht hatte, schlang sie die Arme um ihn. Nur dieses Mal, um ihren Vater zu stützen.

„Nein, ich werde das weiter durchziehen. Es ist gar nicht so anstrengend, wie du es dir vorstellst. Mein direkter Kollege nervt mich nur." Würde sie Donn loswerden, wäre die Arbeit, die ihr auch so Spaß bereitete, um einiges besser.

„Ist das der, der dich vorhin nach Hause gebracht hat?" Ihre Mutter sah von dem Rätsel in der Zeitung auf, die sie von der Nachbarin erhalten hatte. Man half sich in der Nachbarschaft, reichte Sachen weiter. „Der schien mir ganz nett zu sein, obwohl er das Kreuz eines wandelnden Kleiderschranks hat."

„Wer war das?", knurrte ihr Vater, sah sie eindringlich an. „Mein kleines Mädchen ist viel zu jung für so einen Halunken. Die sind eh nur auf das Eine aus."

„Wir waren auch nicht älter", erinnerte ihn seine Ehefrau. „Und sitzengelassen, als ich mit unserer Kleinen schwanger war, hast du mich auch nicht."

„Das waren völlig andere Zeiten", winkte er ab. „Heutzutage halten die meisten Kerle nichts mehr von einer Ehe, sondern suchen sich immer neue Eroberungen. Wer den höchsten Highscore schafft, ist der größte Macker. Ein Spiel ist es für sie, nichts weiteres." Lissa schluckte. Die Worte, die ihr so oft durch den Kopf huschten, von ihrem Vater zu hören, schmerzte sie.

„Mache dir keine Sorgen, Papa. Das war nur Andhaka", versuchte sie den Mann zu beruhigen, dessen Brustkorb sich vor Anspannung unregelmäßig schnell hob und senkte. Er hatte sich in Rage geredet, was selten passierte. Meist hatte er die Ruhe weg, doch der Gedanke, dass sie etwas mit einem Typen anfingen, schien ihn schwer zu beunruhigen. „Das ist ein Kollege, der mich vor den anderen Mitarbeitern schützt. Er macht gern einen auf großer Bruder, ist immer zur Stelle, wenn ich ihn brauche."

„Klingt wie eine bessere Partie als der Junge, der dich nicht schlafen lässt", ließ sich ihre Mutter vernehmen. Sie legte die Zeitung und den Kugelschreiber endgültig zur Seite, stand vom Sofa auf und strich sich die Kleidung glatt. „Komm mal mit in die Küche", rief sie ihrer Tochter zu. „Und du rege dich ab. Unser Kind weiß schon, was sie tut." Lissa half schmunzelnd ihrem Vater, wieder auf dem Sessel Platz zu nehmen, und folgte dann ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer.

„Ich meine es ernst. Der scheint dich zu mögen. Lass ihn dir nicht durch die Lappen gehen." Die ältere Frau holte eine Kasserolle aus dem Küchenschrank und schüttete Milch hinein. Lissa betrachtete sie stirnrunzelnd. Andha? Nein, das war nicht möglich. Außerdem schien Cassandra in ihn verliebt zu sein, so wie sie ihn mit heißen Blicken bedachte und ihn oft, wenn sie sich nicht beobachtet fühle, sanft berührte. Sie würde sich nicht zwischen die beiden drängen. Das wäre falsch. „Brauchst gar nicht mit dem Kopf zu schütteln. Das Leben ist zu kurz, um es nicht in vollen Zügen zu genießen. Aber versprich mir, zu verhüten." Die Mutter drehte sich nach einem warnenden Blick um, holte zwei Becher aus einem Hängeschrank. Leise summend tauchte sie einen Teelöffel ins Honigglas, ließ die goldgelbe klebrige Flüssigkeit in eine der Tassen gleiten. Dann wiederholte sie den Vorgang. Die Milch warf die ersten Blasen. Lissa schaltete schnell den Herd aus.

„Zwischen Andhaka und mir ist nichts und wird auch nie etwas sein." Eisblaue Augen bohrten sich in ihre Gedanken. Was wollte der schon wieder von ihr? Wenn es einen Preis für aufdringlichste Präsenz im Kopf einer Person gab, würde Donn ihn mit Leichtigkeit gewinnen.

„Teste es doch einfach aus. Er hat dich aus freien Stücken nach Hause gebracht, hat dich sogar um einen Spaziergang gebeten. Vielleicht traut er sich einfach nicht, dich zu fragen, weil ihr Kollegen seid. Oder er ist trotz seiner Größe schüchtern." Die Mutter zuckte mit den Schultern, füllte die dampfende Milch in die Becher. Sie rührte beide um, reichte einen an ihre Tochter. „Denke morgen mal darüber nach, was ich dir gerade gesagt habe. Doch jetzt trink deinen Schlummertrunk. Mit etwas Glück beschert er dir schöne Träume." Die ältere Frau zwinkerte ihr vergnügt zu, nahm dann lächelnd einen Schluck. Lissa tat es ihr gleich, grübelte dabei nach. Hatte ihre Mutter womöglich recht?

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt