Lissa seufzte. Mal wieder Samstag und damit letzter Arbeitstag der Woche. Einige der Kollegen hatten von einer Party gesprochen, die heute im Nobiskrug gefeiert werden würde, doch sie hatte nicht vor, hinzugehen. Die vergangenen Tage hatte sie zu viel über Donn, Andhaka und ihre Beziehung zu beiden nachgedacht. Ersteren hasste sie wieder wie am ersten Arbeitstag, zum Zweiten fühlte sie sich mit jedem Gespräch mehr hingezogen. Hatte ihre Mutter recht oder schätzte Andha sie nur als Gesprächspartnerin? Sie traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen, hoffte, dass er auf sie zukam. Was, wenn sie sich täuschte?
„Hey Süße, Ich hole dich dann um acht Uhr ab." Cassandra zog sie ohne Vorwarnung in eine Umarmung und drückte sie fest. Lissa keuchte. War die Freundin in ihrer Freizeit eine Bodybuilderin? Woher nahm sie diese unmenschliche Kraft?
„Kriege – keine – Luft", japste sie übertrieben. Innerlich fluchte sie, dass sie nach Arbeitsende herumgetrödelt hatte, statt direkt zu verschwinden. Nun hatte sie den Salat. Wie kam sie aus der Nummer raus? Cassandra verabscheute Absagen.
„Versuchst du schon wieder Lissa umzubringen?", erklang eine tiefe warme Stimme hinter ihr. Die Arme lösten sich, quetschten nicht länger ihre Rippen. Dankbar füllte sie ihre Lungen mit Sauerstoff, atmete dabei das bekannte Aftershave ein.
„Danke Andha." Sie drehte sich zu dem Mann um, schenkte ihm ein kleines Lächeln. Wie immer war er zur Stelle, wenn sie Hilfe benötigte.
„Das würde ich doch nie tun." Cassandra drängelte sich an seine Seite, lehnte den Kopf an seine Schulter. Ihre Freundin zeigte ihr damit unmissverständlich, was sie für den zuvorkommenden Mann empfand. „Dreimal darfst du raten, wer heute mit uns in den Nobiskrug mitkommt."
„Lissa kann es nicht sein. Die sieht aus, als wenn sie gleich schreiend davonrennt." Andhaka schmunzelte, stupste sie an der Schulter an, legte seine andere Hand auf Cassandras Hüfte und zog die junge Frau noch näher an sich heran. Die Botschaft war eindeutig. Lissa schluckte leer. Sie war nur eine Freundin für ihn.
„Ich habe morgen eine Menge fürs College nachzuholen." Es war an der Zeit, zu verschwinden. Sie lief einige Schritte rückwärts, knallte gegen eine Person, die beide Arme um sie schlang.
„Höre ich das richtig? Du kommst mal mit? Dann weiß ich, wer mir heute den ganzen Abend Gesellschaft leistet." Lissa atmete auf. Sie hatte Schlimmeres erwartet. Mit diesem Trottel kam sie zurecht. Zagan. Leiter der Rechtsabteilung. Unterhaltungen mit ihm waren ihr ein Gräuel, da sie meist Mühe hatte, bei seinen trockenen Themen ein Gähnen zu unterdrücken.
„Nicht einmal einen halben Abend." Sie bog den kleinen Finger seiner linken Hand nach oben. Fluchend ließ er sie los. Typisch für einen Gelehrten der Rechtswissenschaften standesgemäß auf Latein. Lissa schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich lasse mich jetzt nach Hause fahren und keiner von euch hält mich auf." Sie drehte sich zum Gehen weg, knallte gegen die nächste Männerbrust. War hier irgendwo ein Dorf? Sie schnaubte wie eine genervte Stute, die keine Lust auf einen aufdringlichen Zuchthengst hatte. Womöglich sollte sie auch mal wie eine ausschlagen.
„Keiner von denen, aber ich." Chil strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Konnte der seine Griffel nicht bei sich behalten? Wer wusste schon, wen oder was diese zuvor angefasst hatten.
„Du weißt, dass das unter sexuelle Belästigung fällt, oder?" Ihr Blick wanderte an ihm vorbei, fiel auf Donn, der mit Lilith, einer aschblonden schlanken Schönheit mit ellenlangen Beinen aus dem Aufzug trat.
„Ich weiß, dass es dir lieber wäre, wenn der Sohn des Chefs dich so berührte", wisperte Chil ihr zu, sein Atem streifte ihre Wange. „Das wissen alle hier. Ich könnte dir beibringen, was er im Bett mag." Mit den Lippen fuhr er sachte ihre Ohrmuschel nach. Sie erstarrte innerlich zur Salzsäule. Was bildete der Mistkerl sich ein? Weshalb gebot sie ihm nicht Einhalt? Um sie herum war Stille eingekehrt. Jeder in der Eingangshalle schien sie zu beobachten, ihre Reaktion abzuwarten. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Der Mann küsste ihren Kiefer entlang. Wie aufgeregte Schmetterlinge flatterte es in ihrem Bauch. „Nun? Ich warte auf deine Antwort", hauchte er ihr heiser ins Ohr, platzierte eine Hand auf ihrem unteren Rücken. Lissa unterdrückte ein Wimmern. Wieso wehrte sie sich nicht?
„Chil." Ein eiskalter Schauer rann Lissas Wirbelsäule hinunter, trotz der Hitze, die hinter ihr zu brodeln schien. Donn hatte sich zu ihnen gesellt. Er klang ungehalten, seine Stimme frostig. Ihre Wangen glühten. Warum war sie nicht abgehauen, statt sich in dieser verfänglichen Situation erwischen zu lassen? Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn. Sie löste sich aus Chils Griff, drehte sich zum Sohn ihres Chefs.
„Tut mir leid, aber Donn hat zuerst gefragt, ob ich ihn begleite."
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...