Die kleine Ana umklammerte Lissas Hand. Suchend schaute das Mädchen, das sie und Donn bei dem Einsatz in der Lagerhalle gerettet hatten, sich um. „Wo ist sie?"
„Sie kommt gleich." Lissa streichelte der Lütten über den Kopf und betrachtete seelenruhig das Lichtermeer, das sich vor ihnen erstreckte. Fröhliche Kinderrufe hallten über den Eingangsbereich des alten Friedhofs. Einige Dämonenkinder jagten wild an den Gräbern vorbei, während andere brav neben ihren Eltern warteten. Gleich würde Hadal das Zeichen für den Aufbruch geben. Er stand ganz vorne, auf einer kleinen Erhöhung. Stolz überblickte er alles, lächelte immer wieder Kindern zu, die ihn höflich grüßten. Selbst die größten Rüpel unter ihnen gehorchten, sowie sein Blick sie nur streifte.
„Schau mal, Ana, was ich dir mitgebracht habe." Flaga reichte dem Mädchen eine Laterne, die nicht wie bei den anderen Kindern das schaurige Gesicht eines Skeletts oder die grässlich verzerrte Fratze eines Priesters trug. Stattdessen prangte eine schwarze Katze, die einen Buckel machte, vor einem leuchtendorangenen Mond. Die Dämonin nahm die Kleine an die Hand. „Danke Lissa. Geh jetzt zu Donn. Ihr beide sollt zusammen mit unserem Herrn den Zug anführen."
„Wieso soll sie zu mir gehen, wenn ich schon hier bin?" Der Tod tauchte wie auf dem Nichts aus, hob seine Freundin hoch und drückte sie an seine Brust. „Na Schatz, bist du bereit?"
„Wenn ich nein sage, komme ich aus der Sache sowieso nicht heraus." Lissa sah sich nach Hadal um, der gerade von seinem Podest stieg. „Lass uns mal zu deinem Vater gehen. Es ist soweit."
„Möchtest du eigentlich auch eine Laterne, so jung wie du bist?", neckte Donn sie, als er sie durch die Menge nach vorn zum Anfang des Zugs trug.
„Nur weil du bis zu deinem hundertsten Geburtstag mit Teddybären gespielt hast?" Sie tätschelte ihm frech die Wange. „Damit ich nicht stolpere, wäre eine praktisch, aber ich habe ja dich als Blindenhund."
„Sehr witzig. Damals gab es noch keine Teddys." Er schob gespielt beleidigt die Lippe vor. „Außerdem habe ich in dem Alter schon mit Skelettknochen wacklige Türme gebaut."
„Mit kompletten Skeletten, um genau zu sein", mischte sein Vater sich ein. „Eine Gruppe steinzeitlicher Jäger, die einer Herde Mammuts vor die Füße gelaufen sind."
Lissa zog die Nase kraus. „Damals gab es doch gar kein Christentum. Wieso gab es da bereits den Teufel?" Misstrauisch schaute sie Hadal an, doch der winkte nur lachend ab.
„Teufel ist nur eine Bezeichnung von vielen. Als die Erde sich entwickelte, entwickelten sich auch zwei entgegengestellte Mächte, die einander seitdem im Gleichgewicht halten. Das Gute, heutzutage durch einen Greis und seine weißgeflügelten Schmeißfliegen vertreten, die uns die Arbeit mit ihren ständig ausgeteilten Absolutionen erschweren. Und das Böse, das ich zusammen mit meinem Sohn anführe. Meine Tochter hat dahingehend ja leider keine Ambitionen. Sie ist mehr wie ihre Mutter, die schon lange nicht mehr unter uns weilt." Seine Miene nahm einen melancholischen Ausdruck an, der schnell wieder verschwand. „Genug davon. Ich sollte nicht in Erinnerungen schwelgen. Heute ist eine freudige Nacht, an der unsere Zukunft auf der Erde wandelt." Er wandte sich der wartenden Masse zu. „Meine kleinen Dämonen, haltet eure Laternen gut fest und stimmt mit euren Eltern ein Lied an. Feiert die Dunkelheit, besingt die Hölle, unseren sicheren Hafen vor allen Gefahren. Heute ist eine besondere Nacht, daher habe ich eine weitere Bitte an euch. Leuchtet meinem Sohn, dem immerwährenden Tod, und seiner Gefährtin. Schon bald ist es soweit und werden beide mit mir zusammen als Dreigestirn alle Dämonen einen und in den Kampf gegen unsere Feinde führen."
Lauter Jubel der Erwachsenen erklang, schon bald abgelöst von einem Lied in einer fremden Sprache. Die Dämonenkinder sangen inbrünstig. Ihre Eltern stimmten nach und nach mit ein, bis die schaurige Melodie über den alten Friedhof hallte. Langsam setzte der Zug sich mit Lissa, Donn und Hadal an der Spitze in Bewegung, in Richtung des Hains, auf dem der Sohn ihres zukünftigen Schwiegervaters ihr damals ein Rätsel gestellt hatte. Beim Spiel ohne Grenzen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass er der personifizierte Tod war. Ein wandelndes Skelett, so hatte sie ihn sich immer vorgestellt. Nicht als den mitfühlenden Mann, der schon mal jemanden, der auf seiner Liste stand, von der Schippe springen ließ. Sie schaute sich nach Ana um, aber in dem Lichtermeer konnte sie das Mädchen nicht ausmachen. Doch wohin sie blickte, sah sie glückliche Kindergesichter. Eine Nacht auf Erden zu verbringen, lange bevor sie in ihren Abschlussklassen promovierten, erfüllte die Kleinen mit Stolz. Lissa lächelte zufrieden.
„Nun, wie gefällt dir unser diabolischer Laternenumzug?", wisperte ihr Freund ihr ins Ohr, drückte gleichzeitig ihre Hand. Wie immer spendete er ihr Halt, obwohl sie diesmal nicht vor Schwäche fast umfiel. Dieses Mal sorgte er dafür, dass sie nicht von ihren Emotionen überrollt wurde und weinend auf die Knie sank. Vor Dankbarkeit, dass die Dämonen ihr so viel Respekt entgegenbrachten und sie als eine der ihren aufnahmen.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...