Weltschmerz

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Sie liefen an einer Parkbank vorbei, auf der es sich ein älterer Obdachloser bequem gemacht hatte. Neben der Bank lag eine braune Papiertüte, die einen stechenden Geruch verströmte. Seine Kleidung war verschlissen, in den Schuhsohlen prangten Löcher. Ein Husten schüttelte seinen Körper. Lissa seufzte. Viele Menschen hatten es noch weitaus schwerer als ihre Familie. Ohne Dach über dem Kopf, keine liebevolle Unterstützung. Einsam und vergessen von den Mitmenschen. Ob es irgendwo jemanden gab, der ihn vermisste? Wieso landeten so viele mittellos auf der Straße? Lebten sie nicht alle im Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Sie schüttelte traurig den Kopf.

„Seine Zeit ist gekommen", murmelte ihr Begleiter. Leise trat er an den alten Mann heran, drückte ihn sanft an der Schulter. Der rasselnde Atem verstummte, das Zittern verschwand. Lissa atmete auf. Der Fremde hatte nicht nur auf sie einen beruhigenden Einfluss. Er warf ihr einen Blick zu, schien im hellen Mondlicht in ihrem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Womöglich war sie das auch für ihn. Sie grübelte nach. Er war aus dem Nichts aufgetaucht. Wie ein Engel, als sie Hilfe benötigte. Ihr Schutzengel. Ja, das passte zu ihm. Ihn kümmerte es, wie es um die Verlassenen, die Hilfsbedürftigen der Stadt stand. Regungslos sah sie zu, wie er die braune Papiertüte, deren Ausbuchtungen den Inhalt in Form einer Flasche verrieten, in den Abfalleimer neben der Parkbank warf.

„Die braucht er nicht mehr. Der Alkohol war nur eine Flucht ins Vergessen für ihn. Eine Möglichkeit, seine Einsamkeit zu ertränken. Verlassen von seiner Familie, war dies alles für ihn, was ihm blieb." Wieso sprach er in der Vergangenheit? Das ergab keinen Sinn. Ihr Begleiter trat zu ihr, unterbrach ihr Grübeln. „Komm, lass uns gehen." Lissa warf einen letzten Blick auf die Bank, auf der der Obdachlose so friedlich lag, als ob alle Sorgen von ihm gefallen waren.

„Woher weißt du das alles?", fragte sie, während sie in gepflegtere Areale des Parks kamen. „Du scheinst dich auf dem Gebiet auszukennen."

„Man könnte sagen, dass ich jahrelange Erfahrung darin habe", erwiderte er ausweichend. „Doch oft sind es die üblichen Verdächtigen. Die Menschen verlieren ihre Arbeit, ihr Zuhause, ihre Familie und Freunde. Wenn es dir gut geht, reißen sie sich darum, in deiner Nähe zu sein. Geht es dir schlecht, stehst du alleine da." Er ergriff ihre Hand, wärmte sie mit seiner. „Du dagegen hast ein Zuhause, trägst dennoch einen großen Schmerz in dir. Der Tod einer geliebten Person. Habe ich recht?" Lissa zuckte zusammen. Woher wusste er das alles? War er ein Stalker, der sie seit Jahren beobachtete. Ihr Magen krampfte, ihre Atmung stockte. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Hinter ihrer Stirn pochte es abermals hart, sodass sie vor Schmerz leise aufstöhnte.

„Ganz ruhig, komm her." Ihr Begleiter zog sie an seine Brust, schlang beide Arme um ihren zitternden Körper. Seine Nähe wirkte sofort beruhigend, ihr Puls beruhigte sich, wie auch ihre Atmung. „So ist es gut", säuselte er weiter, streichelte ihr sanft über die Haare. Vertrauensvoll lehnte sie den Kopf an seine Schulter, schielte hoch, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Doch dieses lag im Dunkeln. Nur das leichte Lächeln auf seinen Lippen erkannte sie. Wie er wohl aussah? Würden sie einander nach dieser Nacht wiedersehen? Schnell verscheuchte sie diesen Gedanken. College und der neue Job ließen mit Sicherheit keinen Platz für etwas anderes.

„Das Leben ist nicht fair", murmelte sie. „Es entreißt einem grausam die Menschen, die man am meisten liebt. Meine Oma starb, nachdem sie sich an einer Rose gestochen hatte."

„Und seitdem verabscheust du Rosen, nicht wahr?" Sein Atem strich über ihre Haare. Sie schauderte, als er sie auf den Scheitel küsste. Nur eine flüchtige Berührung, nichts Besonderes, redete sie sich ein. „Dabei kann die Rose nichts dazu, wenn auf ihren Dornen Bakterien leben. Es ist nicht ihre Schuld. Nur manchmal hält das Leben für uns unangenehme Dinge bereit. Es liegt ganz an dir, wie du damit umgehst. Versinkst du im Gefühlschaos, oder kämpfst du dich heraus. Es ist einzig deine Entscheidung." Er wandte sich zum Gehen, zog Lissa an der Hand mit. Das Mädchen knabberte auf ihrer Lippe, ließ sich seine Worte das letzte Stück des Weges durch den Kopf gehen. Die Weisheit, die in seiner Stimme mitklang, ließ ihn weitaus älter erscheinen, als sie ihn einschätzte. Womöglich hatte er in seinem jungen Leben ebenfalls Furchtbares erlebt. Nur war er im Gegensatz zu ihr in der Lage, offener damit umzugehen. Vielleicht half er ihr dabei, die Welt in einem positiveren Licht zu sehen.

„Ich muss jetzt gehen. Die Pflicht ruft. Hoffentlich konnte ich deinen Weltschmerz ein wenig lindern. Sei gewiss, wir werden einander wiedersehen." Abrupt ließ er ihre Hand los, seine Wärme verschwand. Verwirrt sah Lissa zu dem Gebäude, vor dem sie standen. Ihr Zuhause. Sie drehte sich in die Richtung, in die der junge Mann verschwunden war. Nichts, keine Spur von ihm. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Kräftige Flügelschläge, ein Windzug, der über sie hinweg huschte. Die Gewissheit drang zu ihr durch. Sie war abermals allein. Mit sich und ihrem Schmerz.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt