„Du klingst nicht gerade sehr begeistert", stellte der Fremde trocken fest. „Man könnte fast meinen, dass du keine Träume hast, keine Phantastereien magst."
„Wunschträume lassen die Kassen nicht klingeln", erwiderte Lissa leise. Der Job, für den sie den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, wäre ihr vor kurzem noch wie ein Traum vorgekommen. Doch je länger sie über die Geschehnisse nachdachte, desto unwirklicher wurde alles. Wie war Hadal ausgerechnet auf sie gekommen? Hatte er am College nach einer engagierten Studentin im ersten Jahrgang gefragt? So wie er es behauptete? Das war doch ein Witz! Sie schüttelte energisch den Kopf, bereute es im selben Augenblick. Der Zwerg schlug kräftig mit seinem Hammer auf den Amboss. Das Pochen hinter ihrer Stirn nahm stetig zu. Lissa zischte, legte die kühle Hand auf die brennende, drückende Stelle.
„Ist die Welt in deinen Augen so düster? Es gibt so viel schöne Dinge im Leben. Fokussiere dich darauf, nicht auf das Elend." Ihr Gesprächspartner umfasste sanft ihr Handgelenk. Wärme, ein leichtes Kribbeln schoss durch ihren Arm. Die Kopfschmerzen verschwanden, wie von einer unsichtbaren Kraft ausgelöscht. Das Mädchen atmete tief durch. Hatte er recht?
„Das klingt schön," stimmte sie ihm zu, „nur kenne ich es nicht anders. Es war nie genug Geld da, um etwas zusammen zu unternehmen. Mein Vater schuftet sich kaputt, damit ich meinem Traum folgen kann." Sie verstummte, runzelte die Stirn. Wieso erzählte sie dies einem Wildfremden, mitten in der Nacht? Einem Mann, der sie im Park überrumpelt hatte. Dennoch fühlte seine Anwesenheit vertraut, als ob sie ihn von Kindesbeinen an um sich hatte. Dabei war er ihr völlig fremd. Sie schüttelte den Kopf.
„Darf ich dich etwas fragen?" Er ließ seine Finger von ihrem Handgelenk zu ihrer Hand wandern, umfasste diese sanft. „Was ist deine Leidenschaft? Wofür brennst du?"
„Für Grafikdesign. Damit kann man gutes Geld verdienen." Sie zuckte mit den Achseln.
„Das ist ein Job. Das meinte ich nicht." Der junge Mann lachte leise. Lissa schloss die Augen, lauschte seiner Stimme. So vertraut. „Es muss etwas geben, was du nur zum Spaß machst. Lesen, irgendeine Sportart." Er hielt kurz inne, drückte ihre Hand fester. „Oder Malen und Zeichnen, eine künstlerische Begabung, die bei deiner zukünftigen Arbeit von Vorteil ist. Ich wette, du kannst detailgetreu zeichnen."
„Das stimmt." Sie lächelte versonnen. Sowie sie einen Stift halten konnte, hatte sie angefangen zu malen. Aus Mangel an Zeichenpapier auch mal auf den Wänden der elterlichen Wohnung. Ihre Mutter hatte nur den Kopf darüber geschüttelt, doch Oma hatte von ihren mickrigen Ersparnissen viele Utensilien gekauft, die Lissa zum Zeichnen und Malen benötigte. Das Mädchen seufzte leise. Sie vermisste die alte Frau.
„Vielleicht zeigst du es mir eines Tages." Ihr Gesprächspartner stieß sie mit der Schulter an. „Doch jetzt solltest du langsam mal Schlafengehen." Er ließ sie los, sprang von der Bank und reichte ihr die Hand, um ihr hinunterzuhelfen. Zögernd schlug sie ein, stieg mit seiner Hilfe von der Parkbank. Noch immer hatte sie nicht sein ganzes Gesicht gesehen, nur die linke Hälfte. Auch jetzt drehte er sich sofort weg, zog die Kapuze seines Hoodies tief in die Stirn, als ob er etwas zu verbergen hätte.
„Danke, ich finde den Weg allein." Lissa wusste nicht, was ihren Argwohn weckte, doch etwas stimmte nicht. Andererseits gab er ihr mit seiner Freundlichkeit und ruhigen Art keinen Anlass dafür. Sie schüttelte leicht den Kopf. Womöglich waren es nur die Ereignisse, die sich seit dem Blumenstrauß und der Einladung überschlagen hatten.
„Nein, ich bestehe darauf. Man weiß nie, was für Halunken sich nachts herumtreiben. Außerdem möchte ich mich noch ein wenig weiter mit dir unterhalten. Solch eine Gelegenheit bekomme ich nicht oft."
„Ach, ist das deine Leidenschaft? Nachts mit einem Mädchen im Park zu reden?" Sie warf ihn einem spöttischen Blick vor, lief dann zum Weg, der nach Hause führte.
„Vielleicht." Er eilte zurück an ihre rechte Seite. „Vielleicht ist es auch nur die Möglichkeit, mich mit dir zu unterhalten und dich aufzuheitern."
DU LIEST GERADE
Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...