Rückenkratzer

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Abends schlich Lissa sich aus dem Haus. Die Leiche des Vaters war vor Stunden abgeholt worden. Danach hatten sie und ihre Mutter noch stundenlang miteinander gesprochen. Über die Vergangenheit, auch über die letzten Monate und die Geschehnisse an diesem Tag. Sie verstand nun, weshalb ihre Eltern ihr alles verheimlicht hatten. Selbst jetzt fiel es ihr noch schwer, zu verstehen, was heute vorgefallen war. Ausgerechnet Donn tötete Menschen mit nur einer Berührung. Ihre Kollegen waren allesamt Dämonen. Doch was war Hadal? Der Höllenfürst persönlich, mit dem sie ihn so oft assoziiert hatte?

Sie hielt auf dem Bürgersteig inne, warf einen Blick zurück auf ihr Elternhaus, hoch zum Fenster, hinter dem sich das elterliche Schlafzimmer verbarg. Ihre Mutter war vor etwa einer halben Stunde erschöpft eingeschlafen. Lissa hatte einige Minuten an ihrem Bett verweilt, hatte sich danach hinunter in die Küche geschlichen. Dort, an der Spüle, hatte sie ihren Emotionen nochmals freien Lauf gelassen. Die Haut über ihren Wangenknochen spannte nun und ihre Augen brannten vom intensiven Weinen. Doch was sollte sie in ihrer Trauer auch anderes tun? Donn war nicht aufgetaucht, so wie er es versprochen hatte.

Ein Windhauch streifte sie, erinnerte sie daran, nicht zu lange in der Kälte zu stehen. Träge setzte sie sich in Bewegung, in Richtung des alten Parks. Es drängte sie danach, zur verwucherten Wiese zu gehen und dort ins Nichts zu starren.

Das rostige Tor quietschte ein wenig, als sie es aufbog. Aufmerksam sah sie sich um, doch sah sie keinen nächtlichen Parkbesucher. Sie eilte weiter, an Bäumen und Sträuchern vorbei. Erst bei ihrer Lichtung angekommen atmete sie tief durch, begleitet von einem Seufzer. Ihr Rückzugsort. Ihre Quelle der Ruhe.

Ein dunkler Schatten glitt über sie hinweg. Schwere Flügelschläge störten die Stille. Es raschelte hinter ihr. Ruckartig drehte sie sich um. Eine hochgewachsene Gestalt mit nacktem Oberkörper, über den sich schwarze Linien wie Schlangen wanden, stand vor ihr. Riesige Schwingen, wie zum Flug ausgebreitet, schienen direkt aus seinem Rücken zu wachsen. Die langen Federn weckten Erinnerungen in ihr. An seltsame Vorkommnisse. Wie oft hatte er sie in den vergangenen Monaten beobachtet? Wie oft mitten in der Nacht beschützt, wenn sie allein in den Park gegangen war?

Lissa hörte ihren eigenen Herzschlag, spürte, wie ihr Herz vor Aufregung aus dem Takt stolperte. Der schwarze Engel des Todes trat langsam auf sie zu, die Arme ausgebreitet. Ein zaghaftes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Hallo Lissa. Entschuldige bitte. Ich kam nicht eher los." Donn zog sie an seine Brust, strich ihr zärtlich über den Kopf. „Wie geht es deiner Mutter?"

„Sie schläft jetzt." Lissa drückte den Mann von sich. „Warum habt ihr mir nicht eher etwas gesagt?" Erneut wallte die Enttäuschung über den Verrat auf. „Ich dachte, wir wären Freunde. Aber mit dem Tod kann man ja nicht befreundet sein. Der kennt keine Gefühle." Sie wandte sich ab. Was redete sie überhaupt noch mit ihm?

Ihr Kollege packte sie am Arm. „Lauf nicht wieder davon. Das ist keine Lösung."

„Und was ist dann die Lösung?" Sie riss sich erneut los. „Was bin ich? Auch eine Dämonin? Ein Mensch scheine ich ja nicht zu sein." Das Blut strömte heiß wie Lava durch ihre Adern. „Was bin ich?", spie sie Donn abermals entgegen.

„Ich weiß es nicht." Er ließ die Schultern hängen. „Ein Wesen wie dich hat es noch nie zuvor gegeben. Du bist weder sterblich wie ein Mensch, noch mit besonderen Kräften ausgestattet wie eine Dämonin. Ein Engel bist du ebenfalls nicht. Vater und ich versuchen schon geraume Zeit herauszufinden, was du bist. Bisher ohne Erfolg."

„Hadal ist also wirklich dein Vater? Wer ist er? Der Teufel?" Tief in ihrem Innern kannte sie die Wahrheit bereits, doch sie wollte sie von ihm hören.

„Ja, der ist er." Donn überbrückte den Abstand zwischen ihnen, zog sie zurück an seine Brust. „Aber egal was du bist, du bist mein", wisperte er Lissa ins Ohr. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Sie und der Tod? Bevor sie wusste, wer er war, hätte sie eine Beziehung mit ihm in Betracht gezogen. Doch jetzt?

„Niemals! Du hast meinen Papa ermordet!", zischte sie und schlug ihre Fingernägel in seinen Rücken. Sie bohrte sie in seine Haut, kratzte und riss daran, um ihm Schmerzen zuzuführen. Um ihn spüren zu lassen, wie der Verlust ihres Vaters an ihrer Seele kratzte.

„Der Krebs hat ihn langsam von innen heraus zerfressen. Ich habe ihm nur Frieden geschenkt. Glaubst du, er hätte so weiterleben wollen?" Donn wiegte sie erneut in seinen Armen, ignorierte, wie sie sich zur Wehr setzte. „Ich weiß nicht, was du bist, aber du gibst einen verdammt guten Rückenkratzer ab."

Lissa hielt inne, kickte ihn dann wutschnaubend gegen sein Schienbein. Was war er doch für ein unmöglicher Kerl!

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt