Verdrängte Furcht

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Sie setzten sich beide auf eine etwa hüfthohe Mauer. Donn legte die Hände auf die Oberschenkel und pulte imaginären Dreck unter den Fingernägeln hervor. Sein Seufzen hallte durch die Dunkelheit. „Wo fange ich an?" Er hob den Blick, starrte einen Augenblick in die Ferne. „Wie du weißt, ist mein Vater für Überraschungen gut. Man sitzt nichts Böses ahnend am Schreibtisch, arbeitet seine Aufgaben ab und dann ruft er einen zu sich ins Büro. So auch an diesem Tag vor vielen Jahren."

„Das klingt gerade so, als ob dein erstes Treffen mit Cassandra Jahrhunderte zurückliegt." Lissa schmunzelte. Manchmal benahm Donn sich, als ob er so alt wie die Menschheit war.

„Das trifft es ziemlich gut." Er atmete tief durch. „Jedenfalls erwartete er mich dort in Gegenwart einer jungen Frau. Wie gewohnt flirtete ich sofort mit ihr, sehr zur Erheiterung meines Vaters. Den Grund erfuhr ich dann wenige Minuten später. Zu meinem Entsetzen stand meine Halbschwester vor mir. Nicht, dass ich es nicht erwartet hatte, mal mit einem Bruder oder einer Schwester konfrontiert zu werden. Dafür genießt mein Vater viel zu sehr das Leben. Doch warum musste sie ausgerechnet so attraktiv sein und zu allem Überfluss mit mir zusammenarbeiten? Das hat meine anfängliche Begeisterung sehr schnell zerstört."

„Kann mir vorstellen, dass sie es auch nicht so amüsant fand, dass du sie sofort angebaggert hast, bevor dein Vater euch einander überhaupt vorgestellt hat." Lissa zuckte mit den Schultern. Es wunderte sie, dass ihm das Erlebnis das Flirten nicht nachhaltig vermiest hatte.

„Du kannst dir keine Vorstellung davon machen, wie angepisst sie war." Donn lachte leise bei der Erinnerung. „Jedenfalls waren wir beide nicht begeistert, als wir kurze Zeit später einander am Schreibtisch gegenübersaßen und zusammen an einem Projekt arbeiten sollten. Ging damals um ein großes Bauvorhaben, an dem mein Vater beteiligt war."

„Manchmal erinnert dein Vater mich an einen Mafioso. Sicher, dass er kein Mafiaboss ist? Würde so einiges in der Firma erklären." Lissa spielte mit einer Haarsträhne. Wenn sie so darüber nachdachte, dann schien es ihr sehr plausibel, dass Hadal in finstere Machenschaften verstrickt war. Dann waren da noch die Fotos, die sie gesehen hatte. Uralt, doch die Männer, die darauf abgebildet waren, sahen Donn und ihrem Boss zum Verwechseln ähnlich. Etwas unheimlich war das Ganze schon.

„Sehr witzig", brummte ihr Kollege. „Wäre mein Vater ein Mafiaboss, dann wären wir schon längst verheiratet. Die fackeln da nicht lange." Er beugte sich zu ihr rüber. „Aber vielleicht wünscht du dir genau das", hauchte er ihr ins Ohr. Bevor sie reagieren konnte, fing er an zu lachen. „Jetzt mal Spaß beiseite, zur Mafia gehören wir nicht. Bei denen geht es weitaus ernster zu als bei uns. Obwohl ich nicht leugnen kann, dass der Aufbau unseres Imperiums dem einer Mafia ähnelt. Nur benötigen wir keine Waffen oder Erpressungen, um unseren Willen durchzusetzen. Das geht ganz von selbst." Er strich sich die Haare aus der Stirn. „Hängt damit zusammen, dass wir so hinreißend aussehen."

„Deine Tätowierung schreckt doch eher die Menschen ab", stichelte Lissa.

„Ja, deswegen hat er mir damals auch Cassy vor die Nase gesetzt. Damit sie die Kunden bezirzte." Er brach ab, schien zu schlucken.

„Du hattest Angst, dass sie dir deine Position im Unternehmen streitig machte, nicht wahr?" Sie drückte sanft seine Hand, spürte, wie der Mann leicht zitterte. Stille legte sich über den Platz. Der Wind strich wie eine streunende Katze um sie herum, hinterließ ein Gefühl von Kälte, wo er sie berührte. Lissa erschauderte.

Donn sah auf, sprang von der Mauer. „Komm, lass uns wieder nach drinnen gehen. Ich möchte nicht, dass du dich erkältest."

„Gerne", erwiderte sie leise. „Und danke, dass du es mir erzählt hast." Im Licht der Straßenlaterne erkannte sie, dass seine Lippen sich zu einem zaghaften Lächeln formten. Durch das Gespräch begriff sie erst, wie unsicher der so selbstsicher wirkende Mann unter der Maske war, die er oft zur Schau trug. Verdrängte Furcht davor, dass ihm jemand die Aufmerksamkeit, die Anerkennung seines Vaters streitig machte. So wie sie, seitdem sie für Hadal arbeitete und er es nicht müde wurde, sie zu loben. Kein Wunder, dass Donn sie als Konkurrenz angesehen und sie dementsprechend herablassend behandelt hatte. Er hatte schlichtweg Angst. Impulsiv ergriff sie seine Hand, lief an seiner Seite ins Gebäude. Seine Offenheit hatte ihr auch etwas anderes gezeigt, sie mit ihrer eigenen verdrängten Furcht vor Ablehnung konfrontiert. Doch sie hatte auch etwas gelernt. Zusammen waren sie stärker.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt