Pik-Ass

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„Lass uns von hier verschwinden", murmelte Lissa. Die Haare an ihrem Nacken stellten sich einzeln auf. Die Wärme, die kurz zuvor durch ihren Körper geströmt war, räumte das Feld für eisige Kälte. „Das gefällt mir immer weniger."

„Bin da ganz bei dir." Cassandras Augen leuchteten im Dunkeln der Nacht einen Moment rot auf. Die altmodisch anmutenden Straßenlaternen spendeten ihnen nur wenig Licht. Es war unmöglich, zu erkennen, welche Gefahren in den Schatten auf sie lauerten. „Donn verzeiht mir nie, falls dir etwas passiert."

„Es wird nichts passieren", versicherte Lissa, obwohl sie selbst nicht davon überzeugt war. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, schnürte ihr den Atem ab. Nur nicht schwach werden, ermahnte sie sich. Womöglich hatte es nur ein einsamer Räuber auf sie abgesehen. Den schafften sie mit Leichtigkeit, falls er sie angriff. „Los jetzt." Sie ergriff Cassandras Hand, zog sie vorwärts. In die Richtung, in der irgendwo das Hotel lag. Warum hatten sie nur so lange herumgetrödelt und waren in diesen engen Gassen geblieben, statt eher in ein betriebsameres Viertel der Stadt zurückzukehren? Obwohl der größte Teil der Altstadt belebt war, herrschten hier gähnende Leere und eine unheimliche Ruhe.

„Hier entlang. Das ist eine Abkürzung." Die Dämonin zog sie in eine weitere Altstadtgasse. Über Kopfsteinpflaster eilten sie vorwärts. Als sie die Gasse verließen, streifte ein Lufthauch sie. Im ersten Moment glaubte Lissa, dass Donn ihnen einen Streich spielte. Weil er gegen den Ausflug nach Paris war. Doch würde er sie niemals so in Schrecken versetzen. Das war nicht seine Art. Sie schaute sich mit Herzklopfen um. Was lauerte in der Dunkelheit?

„Dort, der Park. Dort schütteln wir sie ab", keuchte Cassandra. Die Sorge war ihr deutlich anzuhören. Vor dem Flug hatten ihnen sowohl Hadal als auch sein Sohn verdeutlicht, dass sie zu jeder Zeit vorsichtig sein sollten.

„Können wir nicht in die Hölle abtauchen?", schlug Lissa vor.

„Das geht, wenn man nicht wie mein Bruder fliegen kann oder wie mein Vater der Teufel persönlich ist, nur über die Katakomben der Stadt. Von denen sind wir aber gerade zu weit entfernt. Lauf jetzt." Sie stieß die Freundin Richtung eisernem Tor, dass weit geöffnet stand.

Sie rannten bis zu einer Wiese, die im Mondlicht silbern glänzte. Dort hielten sie an, Rücken an Rücken. Die Luft war erfüllt von kräftigen Flügelschlägen. Nacheinander landeten sechs hochgewachsene Männer in weißen Togen um sie herum. Einer ansehnlicher als der andere.

„Ich hätte es wissen müssen", zischte Cassandra. „Der Gestank nach Weihrauch war mir heute Mittag vor einer Boutique schon einmal aufgefallen."

„Lieber Weihrauch als Schwefel", erwiderte einer der Männer und strich sich eine Strähne seiner blonden Locken hinters Ohr.

Lissa hörte die Freundin würgen. Kein Wunder. Ihr war der Typ ebenfalls zu aalglatt. „Lasst uns in Ruhe", knurrte sie ihn an. „Oder sucht ihr Ärger?"

„Nein, wir haben dich gesucht. Du wirst uns begleiten, doch deine Begleiterin brauchen wir nicht. Sie würde nur die reine Luft verpesten."

„Armleuchter." Cassandras Augen leuchteten blutrot auf. Mit einem spitzen Schrei stürzte sie sich auf einen der Männer, streckte ihn mit einem Tritt gegen das Kinn nieder. Wie ein Wirbelwind schleuderte sie den nächsten Typen in ein Gebüsch. Atemlos sah Lissa zu, wie er sich aus dem Gestrüpp hochkämpfte, grinsend seine Toga zurechtrückte und dann mit Hilfe eines weiteren Mannes die Dämonin angriff. Verbissen wehrte sie jeden Schlag ab, teilte selbst Faustschläge und Tritte aus, die ihre Gegner ins Straucheln brachten.

Endlich kam wieder Leben in Lissa. Sie ballte die Fäuste und stürzte sich auf einen Feind, der sich mit zwei schnellen Flügelschlägen in die Lüfte erhob, nur um gleich darauf hinter ihr zu landen. Er schlang seine Arme um ihren Körper und hielt sie eisern fest. Jegliche Gegenwehr unterband er, indem ihre Unterarme unnachgiebig gegen ihren Bauch presste.

Ein Kerl, der sich bisher nicht am Kampf beteiligt hatte, zog einen silbern glitzernden zylindrischen Gegenstand aus einem kleinen Beutel, den er an der Hüfte trug. Als Cassandra ihm den Rücken zukehrte, um sich gegen seine Begleiter zur Wehr zu setzen, schnellte er vor und stieß ihr die Spritze in den Hals. Die Dämonin sackte in sich zusammen, stürzte ins feuchte Gras,

„Dass ihr Dämonen uns aber auch immer unterschätzt. Mittlerweile solltet ihr wissen, dass wir immer ein Pik-Ass im Ärmel haben." Der mit den blonden Locken lief auf sie zu und übernahm sie von ihrem Wächter. „Dann werden wir dich jetzt mal zum Boss bringen."

Lissa knurrte leise. Auf die Begegnung würde sie gern verzichten. Sie warf einen bedauernden Blick auf ihre Freundin, die einer der Typen auf eine Parkbank bettete.

„Keine Angst, wir sind die Guten", wisperte ihr Goldlöckchen zu. „Sie wird bald aufwachen." Damit breitete er seine Flügel aus und stieg in den Himmel hoch.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt