Es quietschte hinter ihr. Lissa drehte sich um, betrachtete stirnrunzelnd das alte rostige Tor. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur das Metall, das sie vom Bürgersteig trennte. Sie zuckte mit den Schultern. Womöglich hatte sie das Parktor ein wenig offengelassen, wodurch der Wind ein leichtes Spiel hatte. Gespenster trieben sich nicht im Park herum, höchstens einige Obdachlose, die friedlich ihren Rausch um diese Uhrzeit ausschliefen.
Sie hatte die frühen Morgenstunden ausgewählt, um ihren Gedanken nachzuhängen, die meist um eine Person kreisten. Donn. Seit dem Flirtversuch Kasdeyas, die er hochkant aus dem Büro herausgeworfen hatte, war er schweigsamer als sonst. Keine Gemeinheiten, er drängte sich nicht auf. Eher schien er sie zu meiden. Meist tauchte er am späten Nachmittag auf, mit zerzausten Haaren. Frisch aufgestanden, dennoch müde. Sie war davon überzeugt, dass er sich nachts herumtrieb. Seine Entscheidung, nicht ihre.
„Wenigstens lässt er mich in Ruhe", murmelte sie. Seit zwei Tagen wohnte sie bei ihren Eltern, um sich auf bevorstehende Prüfungen am College vorzubereiten. Störungen, wie durch Shoppingtouren von Cassandra, botanische Vorträge von Andhaka und Einladungen zum Essen Gil hervorgerufen, kamen in ihrem Zuhause nicht vor. Keine Freunde, die sie ablenkten. Lissa atmete tief durch. Sie vermisste die Kollegin und deren Partner, die gemeinsamen Mahlzeiten. Schon allein, weil es ihrem Vater sichtbar schlechter ging. Doch genau das war ein weiterer Grund, weshalb sie es vorzog, fern der Arbeit zu lernen.
„Bin ich hier eigentlich festgewachsen?" Sie drehte sich um, schaute auf den Pfad, der zu der einsamen Bank bei der Wiese führte. Ein zweiter tiefer Atemzug. Zu lange war sie nicht mehr durch den Park gewandert, hatte nicht mehr die Einfachheit im Leben, die Schönheit der Natur genossen. Einmal wieder abzutauchen, den Stress hinter sich zu lassen, klang verlockend. Vor allem, weil Donn weit entfernt ins Bett torkelte. Nach wer weiß was für nächtlichen Aktivitäten. Der Gedanke allein an die Möglichkeiten, den Versuchungen, denen ihr Kollege womöglich freudig nachgab, versetzte ihr einen Stich ins Herz.
„An den wollte ich doch nicht wieder denken", murrte sie, setzte sich in Bewegung. Immer weiter trugen ihre Füße sie durch die Grünanlage, fort vom Tor und ihrem Elternhaus. Immer näher an ihren alten Zufluchtsort, an dem Zeit keine Bedeutung hatte. Nebelschwaden hingen über den weiten Flächen wie in die Länge gezogene Zuckerwatte. Ein Märchen oder der Anfang eines Gruselfilms. Je nachdem, auf wen man traf, welche Dämonen man mit sich herumschleppte. Doch alle Last fiel von ihren Schultern ab, als sie endlich vor der großen Wiese stand.
„Genauso schön wie immer." Sie strich über das verwitterte Holz der Parkbank, kletterte auf die Lehne. Das Rauschen von schweren Schwingen durchbrach die Stille. Ein nächtlicher Raubvogel, der zu seinem Schlafplatz zurückkehrte. Sie schmunzelte. Sich umzudrehen, brachte nichts. Der Vogel zeigte sich nie. Wie ein Phantom, das man hörte, doch unsichtbar für menschliche Augen, lebte er in diesem Teil des Parks. Wachte über die Personen, die sich hierher verirrten.
Lissa legte den Kopf in die Hände, schloss die Lider. Andächtig lauschte sie dem Wind in den Baumkronen der Laubbäume, die hinter ihr standen und sie vor neugierigen Blicken schützten. Den Obdachlosen war es zu weit, bis hierher zu laufen. Die wenigen Familien, meist mit kleinen Kindern, hielten sich bevorzugt in dem Parkbereich auf, der vor der Stadt oder Anwohnenden zumindest notdürftig in Schuss gehalten wurde. Nicht so diese Fläche. Verwildert, verwuchert. Ein Paradies für Insekten und kleine Tiere, die im hohen Gras ein sicheres Versteck fanden.
Trotz der Kühle, verursacht durch den sich lichtenden Nebel, fror sie nicht. Eine angenehme Wärme an ihrem Rücken schützte sie davor, zu sehr auszukühlen. Nur ihre Finger und ihr Gesicht waren kalt, leicht feucht von der hohen Luftfeuchtigkeit. Sie steckte die Hände in die Jackentaschen, öffnete die Augen. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
„Endlich mal Ruhe vor der Nervensäge", murmelte sie. „Wie schaffe ich es nur, dass Gil mich ebenfalls nicht mehr anbaggert? Wieso versteht er nicht, dass ich nichts von ihm will?" Ihr Herz, ob es ihr gefiel oder nicht, gehörte einem anderen Mann, der es immer wieder mit Füßen trat. Das Leben war nicht fair. Die Wärmequelle an ihrem Rücken nahm an Intensität zu. Fast, als ob jemand direkt hinter stand, kurz davor, sie zu berühren.
Unfug.
Lissasprang von der Parkbank, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. So spät schon?Wieso ließ ihr Zeitempfinden sie immer im Stich, wenn sie sich hierherzurückzog? Lag es an der Stille? Der wilden Schönheit der Natur? Oder war esNostalgie, die Erinnerung an ihre Kindheit, in der sie sich oft an diesen Platzzurückgezogen hatte? Was es auch war, es setzte ihr Zeitgefühl außer Kraft.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...