Ihr Vater musterte den Schwarzhaarigen am Frühstückstisch ausgiebig. Lissas Mutter hatte Donns Anwesenheit schulterzuckend hingenommen, ihm Frühstücksteller, Besteck und Tasse vor die Nase gestellt. Das Mädchen betrachtete die Frau akribisch. Schwarze Augenringe, tiefe Furchen, die sich über die Stirn wie Schluchten zogen. Die grauen Haare hatten auf ihrem Haupt das Regime übernommen. Lissa schluckte schwer. Das Aussehen ihrer Mutter bestätigte ihre Befürchtungen nur weiter. Diese sah fast so furchtbar aus wie ihr Vater.
„Sie arbeiten also mit meiner Tochter zusammen."
„Ja, wir sind direkte Kollegen." Donn legte das Buttermesser auf den Teller. Entgegen seinem üblichen Verhalten war er ausgesprochen höflich.
„Sind Sie es, der ihr zu Anfang das Leben schwer gemacht hat?" Lissa atmete scharf ein, schaute voller Sorge zu dem Sohn ihres Chefs. Was würde er antworten?
„Ja, der bin ich und ich bedaure es." Donn neigte ein wenig den Kopf. Verschwunden war die Arroganz, die ihn oft im Büro begleitete. „Ich habe mich anfangs von meinen Vorbehalten leiten lassen. Ich dachte, dass Lissa noch nicht so weit wäre, doch ich habe mich schwer getäuscht. Sie können stolz auf ihre Tochter sein."
„Entschuldigung angenommen", knurrte der Mann. „Aber wagen Sie es ja nicht, meiner Kleinen nochmals solch einen Kummer zu bereiten." Lissa schluckte. So kampfbereit kannte sie ihren Vater nicht. Selten hatte er früher das Wort gegen jemanden gerichtet. War es die Krankheit, die ihn zum Äußersten trieb? Ihr Blick fiel auf seine Hände, die unkontrollierbar zitterten, als er die Kaffeetasse mit beiden ergriff. Die Ader an seiner Schläfe trat hervor, kleine Schweißperlen rannen über seine Stirn.
„Rege dich bitte nicht auf." Ihre Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat."
„Der Pfuscher hat keine Ahnung, brüstet sich nur mit seinem Halbwissen", winkte der Mann ab. Sein Blick wanderte wieder zu Donn, der still auf seinem Platz saß und mit einer Toastecke spielte. Ihr Kollege schien in sich gekehrt zu sein. Bereute er wirklich sein Verhalten? Ein kleiner Hoffnungsschimmer breitete sich in ihrer Brust aus. Natürlich hatte er sich ihr gegenüber in der letzten Zeit freundlicher gezeigt. Doch wie oft war so etwas früher erneut ins Gegenteil umgeschlagen?
„Es wird nicht wieder vorkommen", erwiderte Donn leise. Lissa sah, wie er aus dem Augenwinkel zu ihr linste. Sie spürte eine leichte Berührung an ihrem Oberschenkel. Sie fasste hin. Schlanke Finger wanden sich um ihre Hand, drückten diese sanft. Sie unterdrückte ein Kichern. Saß sie hier gerade wie ein verliebter Teenager händchenhaltend am Tisch ihrer Eltern? Mit ihrem Kollegen? Das war doch absurd.
„Nun gut, lassen wir das Thema." Ihr Vater räusperte sich. Sein Blick wanderte zu ihr, nahm dabei eine nie zuvor gekannte Sanftheit an. „Meine Tochter ist etwas ganz Besonderes. Vergessen Sie das nie!" Lissa verdrehte schmunzelnd die Augen.
„Ach Papa, das sagt doch jeder Vater", winkte sie errötend ab.
„Dessen bin ich mir bewusst." Der Griff um ihre Hand festigte sich. Erschrocken hielt sie die Luft an. Was wurde das hier? Beabsichtigte Donn, sie mal wieder zu verwirren? Wenn ja, gelang ihm das ohne großen Aufwand.
„Dann wäre das auch geklärt." Ihr Vater hob abermals seine Tasse an, noch immer zittrig, doch dieses Mal schien er es besser unter Kontrolle zu haben. Lissa schaute zu ihrer Mutter, die leicht schmunzelte. Was war an der Situation so komisch? Die Erkenntnis traf sie wie ein Donnerschlag. Hielten ihre Eltern Donn etwa für ihren Freund und fühlte ihr Vater ihm deshalb auf den Zahn? Das durfte doch nicht wahr sein! Sie öffnete den Mund, um das Missverständnis direkt aus dem Weg zu schaffen. Ein stechender Schmerz an der Stirn ließ sie zusammenzucken.
„Ich denke, wir sollten in unsere Wohnungen zurückkehren." Donn ließ ihre Hand los, stand auf. Mit einer galanten Verbeugung richtete er sich an ihre Mutter. „Vielen Dank für das Frühstück." Dann wandte er sich ihrem Vater zu. „Und ich entschuldige mich nochmals für mein unrühmliches Verhalten ihrer Tochter gegenüber. Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Es wird nicht wieder vorkommen. Wenn Sie uns nun bitte entschuldigen. Lissa benötigt noch etwas Schlaf. Sie hat es in den letzten Wochen mit dem Lernen übertrieben." Der Lügner. Sie wagte es nicht, ihm zu widersprechen, rieb sich nur die schmerzende Stirn.
„Das halte ich für eine gute Idee. Ich bin froh, dass sie sich so um meine Tochter kümmern." Lissas Mutter stand ebenfalls auf, zog den völlig überraschten Donn in eine herzliche Umarmung. Ihr Vater beobachtete alles schweigend. Wie zur Vorbereitung einer ausführlichen Analyse, ob der junge Mann mit dem tätowierten Gesicht etwas taugte, sie glücklich machen konnte. Lissa schluckte. Das war es, was sie an dem Gespräch gestört hatte. Ihr Vater analysierte, ob Donn zu ihr passte. Dabei war er doch nur ihr Kollege. Noch dazu der Sohn des Chefs. Aber sie brachte es nicht übers Herz, die Wahrheit zu sagen. Ihre Eltern schienen mit ihrem angeblichen Freund zufrieden zu sein. Vielleicht sollte sich nach der Rückkehr auf ihr Zimmer ebenfalls eine Analyse durchführen. Wie hatte es nur so weit kommen können?
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...