mucksmäuschenstill

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Es klopfte an der Tür. Lissa hob verschlafen den Kopf und wandte sich dem Geräusch zu. Sie sah, wie der Türgriff sich nach unten neigte. Wenn da gleich Donns Vater auftauchte, um etwas zu besprechen, würde sie flüchten. Die halbe Nacht verbrachte sie bereits bei ihrem Kollegen, der stirnrunzelnd in seine Arbeit versunken war. Sie setzte sich auf, zog die Schuhe an. Die Tür schwang auf. Hadal trat ein. Lissa blinzelte verwirrt. Ihr Arbeitgeber sah grundsätzlich wie aus dem Ei gepellt aus. Kein Fünkchen Erschöpfung, dabei hatte der kleine Zeiger die zwölf längst überschritten.

„Hallo Lissa, wie ich sehe, bist du noch wach. Das trifft sich gut. Ich wollte mit euch beiden etwas besprechen." Er wandte sich Donn zu, der zum ersten Mal seit etwa einer Stunde von den Dokumenten hochsah. „Contra vim mortis non est medicamen in hortis." Das Mädchen horchte auf. War das eine Sprache aus Südeuropa? Spanisch schloss sie aus, das hörte sie oft in der Nachbarschaft, wenn Familien aus Honduras oder von Kuba sich unterhielten. Vielleicht Portugiesisch oder Italienisch?

„Musst du gerade sagen, Vater." Donn setzte sich aufrecht hin, streckte die Arme über dem Kopf. Sein Blick wanderte zu ihr. Etwas Sehnsüchtiges schwang in der Art mit, wie er sie ansah. Ihre Nackenhaare stellten sich zur Abwehr auf, gleichzeitig verspürte sie einen unbändigen Zug, der sie in seine Richtung zerrte. „Omnia tempus habent." Hadal nickte zustimmend, betrachtete Lissa ebenfalls eindringlich. Es waren Momente wie diese, in denen sie es kaum in der Nähe der zwei Männer aushielt. Etwas Düsteres umgab sie, eine dunkle Wolke, die ihre wahren Absichten verhüllten. Sie zwang sich, auf dem Sofa sitzen zu bleiben, bis beide das Interesse verloren und ihren Geschäften nachgingen. Was auch immer das war und was nicht bis Montag früh warten konnte. Lissa gähnte leise. Die Männer wandten sich ab, beugten sich zusammen über die auf dem Schreibtisch verteilt liegenden Dokumente.

Hadal stand mit dem Rücken zu ihr, verdeckte die Sicht seines Sohnes. Sie unterhielten sich wieder in der seltsamen Sprache, die sie nicht kannte, schienen dabei ihre Anwesenheit völlig auszublenden? War der perfekte Moment nach stundenlangem Ausharren endlich da? Sie presste die Fäuste auf die Sitzfläche des Sofas und stemmte sich hoch. Die weichen Kissen ließen sie nur ungern frei. Lissa unterdrückte ein erneutes Gähnen, schlich auf Zehenspitzen zu offenstehenden Tür. Wie praktisch, dass Hadal sie nicht geschlossen hatte. Sie drückte sich durch den Spalt hindurch. Auf dem Flur hielt sie inne, sah abwechselnd in die zwei unterschiedlichen Richtungen. Eine führte zur Treppe, über die sie zum Clubbereich gelangte. Doch dann fing Donn sie mit Sicherheit wieder ab. Die Andere gab den Blick zu einem mannshohen Fenster frei, an dem der Flur endete. Mit etwas Glück fand sie dort einen Fluchtweg. Sie straffte die Schultern und lief leise dorthin. Dickes Fensterglas, eingefasst in einem massiven Kunststoffrahmen.

Lissa schaute hinaus. Eine Außentreppe schmiegte sich an die Außenwand. Eine Fluchttreppe, die ihr wie gelegen kam. Nur ließ sich das Fenster öffnen? Zögernd packte sie den Griff, zog ihn in die Waagerechte. Es klickte leise. Kühle Nachtluft drang ins Gebäude wie ein hungriger Bär. Das Mädchen setzte sich auf die Fensterbank, schwang die Beine hinüber. Misstrauisch sah sie zurück in den Flur. Nichts. Schnell zog sie ihre Schuhe aus.

Barfuß stieg sie die metallenen Stufen hinab. Das Schuhwerk in einer Hand, die Andere am Geländer lief sie der Freiheit entgegen. Dieses Mal erwischte er sie nicht. Aus dem Nobiskrug dröhnten die wummernden Bässe nach draußen, kitzelten leicht ihre Organe. Wieso stellten sie die Musik nicht etwas leiser? War die Lautstärke wirklich notwendig? Tranken die Gäste dann mehr, um den Lärm besser zu ertragen? So abwegig war die Idee nicht. Lissa schüttelte schmunzelnd den Kopf. Wenigstens saß sie nicht mittendrin. Zufrieden sog sie die Luft ein. Die Müdigkeit von zuvor verschwand, genauso wie sie selbst. Mucksmäuschenstill, so entdeckte Donn sie nicht. Sie erreichte das Ende der Treppe, zog die Schuhe über. Oben am Gebäude raschelte es. Ein großer Schatten ließ den asphaltierten Weg dunkler erscheinen. Nistete ausgerechnet hier eine Eule? Ein immenser Lufthauch traf sie, wie von kräftigen Flügelschlägen. Sie zuckte zusammen. Was war das? Ihr Herzschlag verdoppelte seinen Takt. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie sah sich suchend um. Wohin war der Vogel verschwunden? Rückwärts entfernte sie sich vom Gebäude, misstrauisch in jede dunkle Ecke schauend.

„Suchst du mich?" Zwei warme Arme schlangen sich um ihren Körper. „Dachtest du wirklich, dass es dir dieses Mal gelingt? So mucksmäuschenstill kannst du gar nicht sein." Donns leises Lachen an ihrem Ohr trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Wieder hatte er sie erwischt, sie von einer Flucht in die Freiheit abgehalten.


Übersetzung:

Contra vim mortis non est medicamen in hortis. = Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen.

Omnia tempus habent. = Alles hat seine Zeit.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt