Glückskind

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Völlig gerädert wachte Lissa am darauffolgenden Morgen mutterseelenallein in einem großen weichen Doppelbett auf. Wo zur Hölle war sie und wie war sie hier gelandet? Abrupt setzte sie sich auf. Die Bettdecke rutschte auf ihren Schoß, gab den Blick frei auf ein schmuckloses blickdichtes Nachthemd. Ein dumpfer Schmerz pochte hinter ihrer Stirn. Langsam glitt sie zurück auf die Matratze.

„Ich habe doch nicht etwa...?" Sie lauschte in ihren Körper hinein. Außer dem Kopfschmerz schien nichts anders als sonst. Erleichtert atmete sie durch, kämpfte sich dieses Mal vorsichtig in die Senkrechte. „Also, ich habe erst mit dem reichsten Mann der Stadt gesprochen. Dann verschwand er, tauchte stattdessen diese merkwürdige Cassandra auf. Hadal selbst habe ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Einige der als Dämonen verkleideten Männer interessierten sich für mich, doch ihre Flirtversuche wurden von der Frau unterbunden. Aber wie bin ich danach hierhergekommen?" Lissa schwang die Beine über den Rand des Bettes, visierte eine Tür an, hinter der sie ein Badezimmer vermutete. Denn der Raum, in dem sie sich aufhielt, strahlte nichts Persönliches aus, wirkte wie ein gepflegtes Hotelzimmer. Das Bett, ein Sofa mit Couchtisch, ein Schreibtisch mit dazugehörigem Stuhl, ein Kleiderschrank.

„Na dann hoffe ich mal, dass dort wirklich das Bad ist. Sonst mache ich mich in diesem Aufzug gleich lächerlich, falls mir jemand über den Weg läuft." Sie schwankte leicht beim Gehen, ihr Schädel pochte weiter. An alkoholische Getränke erinnerte sie sich nicht. Nur an die stetig schlagenden Trommeln, die Schwüle und einen seltsamen Geruch, der sich zwischendurch in die Parfüms, Aftershaves und den Schweiß der Tanzenden in der Lounge mischte. Der Gestank nach faulen Eiern. Wie Schwefel. Passend für die Unterwelt, aus der sie wie durch ein Wunder entkommen war. Ein Kichern stieg ihren Hals hinauf, kitzelte ihren Gaumen.

„Ich glaube, ich übertreibe maßlos." Schmunzelnd betrat sie das Badezimmer, warf einen Blick in den Spiegel. Ihre Augen waren ein wenig geschwollen. Eine Tatsache, die sie auf den dichten Nebel im Club schob. Das Chemiezeug gehörte verboten! Auf dem Waschbeckenrand lag ein Stapel frischer Kleidung, daneben eine eingepackte neue Zahnbürste, Zahnpasta und eine saubere Haarbürste. Lissa streifte das Nachthemd ab, stieg unter die Dusche, in der Hoffnung, dass das Wasser die Kopfschmerzen vertrieb. Verführerisch duftendes Duschgel und Shampoo warteten auf sie.

„Ist hier alles perfekt durchgeplant?" Es war seltsam, einmal Glück zu haben. Ihre Eltern betonten zwar ständig, dass sie ein Geschenk der Götter war, doch hatte ihre Anwesenheit wohl kaum das Leben der beiden erleichtert. Die Mutter, unfähig nach ihrer Geburt weitere Kinder zu gebären. Ihr Vater, der sich abschuftete, damit sie nach der Schule studierte. Geld war knapp, Liebe gab es reichlich. Nur reichte diese nicht aus, um alles Notwendige anzuschaffen. Die Erwachsenen verzichteten stets auf sämtliche eigenen Wünsche, nur um ihretwillen. Der Luxus, der sie in diesem Moment umgab, gebührte ihren Eltern. Sie selbst verdiente ihn nicht. Seufzend wusch sie sich, trocknete danach ihren erfrischten Körper mit dem kuschelweichen riesigen Badelaken ab.

Wenig später trat sie zurück in das Zimmer, suchte es nach dem Kleid und dem Diadem ab. Die Sachen gehörten ihr nicht, mussten zurück zu ihrem Eigentümer. Doch nirgends eine Spur der Gegenstände. Lissa betete inständig, dass niemand sie gestohlen, sondern dass jemand sie bereits aufgeräumt hatte. Niemals könnte sie diese Kostbarkeiten ersetzen!

Ein eindringliches Klopfen an der Zimmertür ließ sie zusammenzucken. Sie wischte die feuchten Handflächen an der weichen Hose ab, die sanft ihre Figur umschmeichelte.

„War ja klar, dass du mich nicht hereinbittest." Cassandra betrat breit grinsend den Raum. „Wäre das Glückskind geneigt, mich zum Frühstück zu begleiten?" Lissa sah die Frau schweigend an, wies in einer hilflosen Geste auf das Bett und die anderen Gegenstände. „Hat es dir die Sprache verschlagen? Dabei hat mein Herr dir noch gar nicht seinen Vorschlag unterbreitet. Komm, lass uns erst einmal etwas essen. Danach bringe ich dich zu ihm ins Büro."

„Aber," das Mädchen stockte, „ich will ihm nicht unter die Augen treten. Ich weiß nicht, wo ich die Sachen gelassen habe, die er mir geschickt hat."

„Ach daher weht der Wind." Cassandra trat zu ihr, berührte sanft mit dem Zeigefinger Lissas Stirn. „Das Kleid ist bereits in der Reinigung und das Diadem ist genau dort, wo es hingehört", hauchte sie ihr ins Ohr. „Folge mir jetzt, Glückskind. Nicht jeder bekommt so eine Chance wie du. Vor allem nicht ohne eine Gegenleistung." Sie hakte sich bei dem Mädchen ein, führte dieses aus dem Zimmer zum Fahrstuhl. Glück? War es das? Lissa schluckte. Die Situation war genauso grotesk und irreal wie die Stunden im Club. Wieso scheute ein reicher Mann wie Hadal keine Kosten und Mühen für ein Nichts wie sie?

Glückskind – eine Bezeichnung, die ihre Eltern oft für sie verwendet hatten, vor allem in ihrer Kindheit. Stimmte es? Sollte sich ihr Leben zum Besseren wenden? Zweifel flüsterten ihr zu, rieten ihr, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Doch eine unbekannte Macht zwang sie, der fremden Frau zu folgen. Es war weder Dankbarkeit noch Neugierde, die sie gehorchen ließ. Eher ein unausgesprochener Befehl, dem sich zu widersetzen zwecklos war. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sie war kein Glückskind. Doch was war sie dann?

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt