Lieber du als ich

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„Wer sagt es ihr?", hörte sie Donn leise fragen. Es drang kaum noch etwas zu ihr durch. Watte schien sich in ihrem Kopf um ihr Gehirn zu legen, sämtliche Denkimpulse bremsend, verhindernd.

„Lieber du als ich", erwiderte Hadal ebenso leise. „Es war dein Fehler, den wir alle ausbügeln müssen. Du hast etwas geschaffen, was nicht existieren dürfte."

Lissa sah, wie ihr Kollege vortrat, und griff instinktiv die Hände ihrer Mutter, die das Geschehen mit glasigen Augen verfolgte.

„Vor etwas mehr als achtzehn Jahren stand ich schon einmal in diesem Haus, an der Wiege eines kleinen Mädchens. Es litt am Dreitagefieber, einer Krankheit, die die meisten Babys problemlos überleben. Doch bei diesem Kind war das Fieber zu hoch. Es schädigte den Körper, die Organe drohten auszusetzen." Er hielt einen Augenblick inne, sah zu dem Kranken, der ihm aufmunternd zunickte. „Es hätte nur eines Wortes bedurft, um das Mädchen friedlich sterben zu lassen," setzte Donn die Erzählung fort, „doch unterlief mir dabei ein Fehler. Statt es bei seinem bei der Geburt verliehenen Namen zu rufen, nannte ich es Lissa. Statt die Kleine sanft für immer einschlafen zu lassen, nahm ich ihr das Fieber. Keine Krankheit kann ihr seitdem etwas anhaben. Selbst der Tod persönlich ist machtlos ihr gegenüber."

„Aber, das ist doch nicht möglich!", rief Lissa verwirrt. Donn war kaum älter als sie. „Was erzählst du da für einen Mist?"

„Es ist wahr, meine Tochter." Ihr Vater wurde von einem Hustanfall unterbrochen. „Wir hatten dich damals schon aufgegeben. Deine Großmutter hatte an deinem Bett gewacht, weil wir erwarteten, dass du die Nacht nicht überleben würdest." Er hustete erneut, Blut lief an seinem Kinn herab, tropfte auf sein Oberteil, doch er schien es nicht einmal zu bemerken.

„Sie ist irgendwann eingeschlafen und wachte auf, weil du fröhlich gegluckst hast." Ihre Mutter übernahm die Erzählung. „Er stand an deiner Wiege." Sie wies auf Donn, der seinen Blick zum Boden gerichtet hatte. „Er stand da und kitzelte dich mit einer Feder aus seinen schwarzen Flügeln."

Das war doch alles Wahnsinn! Lissa sprang auf, torkelte von ihren Eltern weg. Hadal schnellte vor, packte sie am Handgelenk, damit sie nicht der Länge nach hinfiel. Seine Finger schlossen sich wie eiserne Kettenglieder um ihren Unterarm, hielten sie erbarmungslos fest.

„Du hast versprochen, nicht wegzulaufen", erinnerte er sie, seine Stimme mahnend. Wie in Zeitlupe wandte sie sich ihm zu. Seine Augen leuchteten blutrot. Kleine Flammen schienen darin zu tanzen. Die Hitze, die er ausstrahlte, wurde unerträglich. Lissa riss sich von ihm los, stolperte rückwärts, bis jemand sie stoppte. Fassungslos starrte sie auf ihr gerötetes Handgelenk. Ihre Haut glühte wie nach einem schweren Sonnenbrand.

„Es tut mir leid, das wollte ich nicht." Ihr Boss hob entschuldigend die Hände. Zum Zeichen, dass er sie nicht wieder anfassen würde. „Donn, erzählst du ihr bitte den Rest."

„Ja, Vater." Ihr Kollege begleitete sie zurück zum Sofa, auf das sie sich wie in Trance setzte. Er hockte sich vor sie, ergriff ihre Hand. „Mein Fehler führte dazu, dass mein Vater gerufen wurde, um die Wandlung rückgängig zu machen. Doch deine Familie flehte ihn an, dir das Leben zu lassen und dafür sie zu nehmen. Ein Deal wurde an dem Abend geschlossen. Ein Deal, der mehrere Punkte umfasste. Zum einen den Tod deiner Großmutter wenige Jahre später. Sie wusste, dass die Blume, die sie am meisten liebte, sie eines Tages zerstören wurde. Das hat sie jedoch nie davon abgehalten, dir ihre Liebe zu Pflanzen näherzubringen. Sie war eine starke Frau. Dein Vater," Donn warf einen Blick zu dem Kranken, „akzeptierte ebenfalls sein Los. Solange wie es sein Körper zuließ, schuftete er von früh bis spät, um dir alles in seiner Macht stehende zu ermöglichen. Deswegen hatten wir ihm einen Aufschub gewährt, damit er mehr Zeit mit dir verbringen konnte. Seine Liebe zu dir ist so tiefgreifend, dass er die Schmerzen ohne zu zögern in Kauf genommen hat."

„Kommen wir zum dritten Punkt." Hadal stellte sich vor Lissas Mutter und streckte den Arm aus. „Das Schmuckstück, bitte." Lächelnd nahm er die kleine Schachtel entgegen und öffnete sie. Ein filigraner Ring mit einem Rubin steckte darin. Behutsam holte er ihn heraus und reichte ihn an Donn weiter. „Das Diadem sollte dich damals, als du bei uns in der Firma angefangen hast, vor Gefahren schützen. Einmal vor unüberlegtem Handeln deinerseits, andererseits vor den Verlockungen, die das Leben unter Dämonen bietet. Die Kette von Deimos hat ihre Wirkung aufgehoben und stattdessen deinen Schutz übernommen, wie wir feststellen konnten. Dieser Ring wird die Wirkung der Kette noch erhöhen. Du wirst gefahrlos als eine Art der Unseren bei uns bleiben können." Er lächelte breit, nickte seinem Sohn zu, der ihr das Schmuckstück an den Finger steckte.

Ein kurzer Schmerz, dann sah sie mit heftig klopfendem Herzen zu, wie der Ring unter ihre Haut drang und mit ihrem Körper verschmolz. Sie wollte aufspringen, doch ihr Kollege drückte sie sanft an den Schultern wieder runter.

„Wir sind hier noch nicht fertig", murmelte er mit einem Seitenblick auf ihren Vater, der blass und kraftlos in seinem Sessel hing.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt