Imagination

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„Da wären wir." Donn öffnete die Tür zu seinem Penthouse, zog Lissa, die stirnrunzelnd am Türrahmen stehenblieb, hinein. Sie wünschte sich nichts mehr, als direkt unter ihrer eigenen Bettdecke zu verschwinden und zu schlafen. Der Besuch bei ihren Eltern hatte sie doch mehr angestrengt, als sie zuvor angenommen hatte. Es war nicht leicht, den bluteigenen Vater dahinsiechen zu sehen.

„Warum lässt du mich nicht einfach ins Bett gehen?", murrte sie, als ihr Kollege sie zielstrebig zum Sofa führte. Den mit ihren Habseligkeiten prall gefüllten Rucksack stellte er daneben ab.

„Weil du dann wieder weinst. Das möchte ich nicht." Er drückte sie an den Schultern runter, bis sie sich widerstandslos setzte. „Du hast es momentan auf der Arbeit schon schwer genug. Da musst du nicht noch mit deinem Schmerz alleingelassen werden."

„Als du mir das Leben zur Hölle gemacht hast, hat es dich wenig interessiert, wie es mir ging." Sie starrte auf die große Glasfront. Die Silhouette der Stadt, in das leuchtende Rot der untergehenden Sonne getaucht, flimmerte vor ihren Augen. Wie die Luft an einem heißen Sommertag.

„Hölle, soso." Donn hockte sich vor sie und schmunzelte. „Ich könnte dir zeigen, wie die wirkliche Hölle aussieht. Sie ist nicht das, was sich Menschen darunter vorstellen. Ich könnte sie dir zeigen, doch dafür musst du mir vertrauen. Auf halbem Weg umkehren können wir nicht." Er schien mit seinem Blick nach Zustimmung in ihrem Gesicht zu suchen, so prüfend schaute er sie an.

„Meinetwegen", murmelte sie. „Aber danach darf ich ins Bett, oder?"

„Natürlich." Donn erhob sich, lief zu der kleinen Küchenzeile. „Erst solltest du allerdings etwas trinken."

„Ich trinke keinen Alkohol, das weißt du." Lissa überlegte, aufzustehen und zu ihrer Wohnung zu verschwinden. Doch das akzeptierte der Dickkopf mit Sicherheit nicht. Sie hatte mehrfach Ähnliches versucht. Mit dem Resultat, dass Donn bei ihr hockte und sie ihn nur mit Mühe, und weitaus später als beabsichtigt, wieder loswurde. Zuweilen war er eine wahre Plage.

„Wer redet denn von Alkohol?" Er stellte eine kleine Flasche Wasser vor ihr ab. „Austrinken. Die Flüssigkeit wirst du brauchen."

„Und was ist mit dir?" Misstrauisch starrte sie auf seine leeren Hände. Wieso ließ sie sich auf diesen Quatsch überhaupt ein.

„Keine Sorge, ich verkrafte das schon." Donn plumpste neben ihr auf das Sofa, setzte sich hinter sie. „Trink und entspann dich. Du brauchst nichts weiter mehr zu tun, als mir zu vertrauen." Der hatte leicht reden. Sie schüttelte den Kopf, gehorchte dennoch. Das kühle Nass erfrischte ihre müden Geister. Lissa stellte die leere Wasserflasche zurück auf den Couchtisch.

„Und nun, schließe die Augen." Donn zog sie an seine Brust. Mit den Fingerspitzen berührte er ihre Schläfen. „Vertraue mir", hauchte er ihr zu.

Gleich darauf legte sich eine schwüle Hitze um sie, die auf ihrer Haut wie Feuer brannte und ihre Bronchien zu versengen drohte. Bilder eines Pfads, gesäumt von dunklem Gestein, tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie warf einen Blick auf ihre nackten Arme, um sich zu vergewissern, dass die Härchen nicht lichterloh in Brand standen. Die Gluthitze nahm weiter zu. In der Ferne ein stetig heller werdender Lichtschein, je näher sie ihm kam. Sie trat um eine Biegung, wandte geblendet den Kopf ab.

„Sieh hin. Dir passiert nichts", vernahm sie Donns Stimme. Wie in Trance gehorchte sie. Gleißendes Licht, ausgestrahlt von einer sich wie Magma im Vulkaninnern bewegenden zähfließenden Masse. Es erinnerte sie an die Lavaströme auf Hawaii, die sich langsam über das Land schoben. Ansonsten Leere. Keine Menschen, die nach ihrem Tod im Fegefeuer verbrannten und um Gnade flehten. Keine Seelen, die in einer Höllensuppe schwimmend ihre Kreise zogen. Nichts, wie es sich die Christen vorstellten und predigten. Sie atmete tief durch, ohne dass ihre Lunge schmerzte. Eine seltsame Ruhe überkam sie. Eine Gewissheit, dass die Hölle ungefährlich war – für sie. Eine Erkenntnis, die sie einerseits in Sorge versetzte, andererseits beruhigte.

„Siehst du, dir droht keine Gefahr." Sanft massierte Donn ihre Schläfen. Die Hitze um sie herum nahm ab, bis Lissa fröstelnd die Arme um sich schlug. Verwirrt öffnete sie die Augen, erkannte die Einrichtung des Penthouse. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Müde schmiegte sie sich an ihren Kollegen, der sie auf seinen Schoß zog. „Ruhe dich aus. Beim nächsten Mal zeige ich dir mehr." Lissa hob kurz den Kopf, sah Donn nachdenklich an. Wieso hatte er solch einen Einfluss auf ihre Imagination? Bei Hadal, der ihr oft wie ein Höllenfürst vorkam, hätte sie es verstanden. Doch sein Sohn wirkte um einiges kühler. Eher wie der Tod höchstpersönlich. Sie schmunzelte. Ihre Gedanken liefen dank ihrer Übermüdung mal wieder Amok. Sie bildete sich alles nur ein, ein Resultat ihrer überschäumenden Fantasie. Nur eines war echt. Dass der Mann, dem sie immer mehr verfiel, sanft in seinen Armen hielt und unwiderstehlich roch. Lissa vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge. Ihre Lider, so schwer wie Blei, fielen langsam zu.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt