Jetzt verschleppte der gefiederte Trottel sie auch noch ins Wolkenkuckucksheim. Hohe Türme, protzig glitzernde Bauten, deren Dächer aus purem Gold zu bestehen schienen. Die Wesen, die hier wohnten, wurden ihr immer unsympathischer.
„Gleich sind wir da. Sie erwarten dich schon." Goldlöckchen flatterte dümmlich grinsend zu einem Gebäude, das Lissa für den Herrscherpalast hielt. Dämliche Fähnchen wackelten im Wind. Wasserspeiende fette Engel standen zu beiden Seiten und spuckten eine seltsam riechende durchsichtige Brühe im hohen Bogen über den Weg, der über eine fluffige Wolke führte.
„Vergiss es. Nicht da durch. Das verätzt mir sicher die Haut." Sie dachte an die Worte Donns und seine körperliche Reaktion auf die Himmeltränen. Wie der starke Mann vor ihren Augen zusammengebrochen war.
„Ach was. Es kann dir nichts haben", beruhigte der Engel sie. „Es wirkt leider nicht einmal gegen Azrael. Wenn der will, bricht er in den Palast ein und nimmt alles auseinander. Wäre bestimmt ein lustiger Anblick."
Wer zur Hölle war Azrael? Sie verkniff sich die Frage. Je weniger sie mit diesen Typen redete, desto weniger Chancen bekamen ihre Kidnapper, sie zu manipulieren. Wortlos akzeptierte sie, dass Goldlöckchen sie durch die wagenweit offenstehenden Flügeltüren in die Eingangshalle trug und dort herunterließ. Missmutig schaute sie sich um. Weißer Marmor in vielfältigen Formen. Als Fußboden. Als Säulen, auf denen stilisierte Blätter mit Gold verziert waren. Als unbequeme Sitzgelegenheiten, auf denen dick aufgebauschte weiße Kissen mit goldenen Fransen lagen.
Hatte Hadals Faible für die Farben Schwarz und Blutrot sie anfangs verstört, verursachte die Protzerei seines Kontrahenten ihr Übelkeit. Die Betonung der Reinheit durch die Farbwahl ließ sie vermuten, dass die Bewohner der Wolkenstadt so einige Leichen im Keller verscharrt hatten.
„Er erwartet dich bereits. Ich führe dich jetzt zu ihm. Alles weitere wirst du von ihm oder seinen Generälen erfahren." Der Mann wies mit einer Hand auf die breite Treppe, deren Marmorstufen im Schein unzähliger Kronleuchter wie mit einer Eisschicht überzogen glänzten.
„Wie wäre es, wenn wir das Gespräch ausfallen lassen, und du mich sofort zurück zur Erde bringst", schlug sie ihm vor. „Ich wüsste nicht, was ich mit ihm zu besprechen hätte. Oder er mit mir."
Goldlöckchen lachte amüsierte, kleine Lachfältchen gaben ihm ein freundliches Aussehen, doch Lissa wusste aus Erfahrung, wie sehr das Äußere täuschen konnte. Andhaka, dessen Körperumfang sie anfangs verunsichert hatte. Oder Aswa, der jeden mit seinem eisigen Blick verscheuchte. Beide Männer hatten ihr mehrfach bewiesen, dass sie trotz ihrer Größe und der Gefahr, die sie verströmten, ein Herz aus Gold besaßen. Ihre Kidnapper dagegen waren ihr unsympathisch und sie traute ihnen nicht über den Weg.
„Leider kann ich deinen Wunsch nicht erfüllen. Ich zeige dir später aber gern deine neue Heimat." Er berührte Lissa leicht am Oberarm. „Wir sollten ihn nicht länger warten lassen. Er wird dann etwas ungemütlich."
„Dachte immer, der tatterige Greis wäre geduldig und würde jegliche Vergehen seiner Schäfchen lächelnd vergeben", murrte sie, als sie die Treppe hinaufstiegen.
„Schön wäre es", seufzte ihr Begleiter. „Da wären wir." Er hielt vor einer Flügeltür, die in ihren Ausmaßen und Verzierungen die Eingangstür noch bei weitem übertraf.
„Kommst du mit rein zum Großkotz?" Wohl war ihr nicht bei dem Gedanken, dem Wesen, das dem Teufel ebenbürtig war, entgegenzutreten.
Goldlöckchen lachte wieder. „Ich würde dich gern begleiten, nur würde er mich im hohen Bogen aus dem Fenster werfen. Beziehungsweise hindurch." Er schüttelte den Kopf. „Zweimal reicht mir." Er wandte sich zum Gehen. „Übrigens, gute Arbeit mit der Rettung der Kleinen. Das hat ihm gar nicht gepasst." Zwinkernd zog er sich zurück.
Bevor Lissa ihm eine Frage stellen konnte, öffnete jemand von innen die Tür. Sogleich wurde sie von einem mehrstimmigen Chor glockenklarer Stimmen begrüßt. Kinder in weißen Gewändern, wie sie gleich darauf feststellte. Waren das Menschenkinder, die sie zu sich holten, damit sie später ihre Armee verstärkten? Die Krieger des Lichts, wie Aswa sie genannt hatte? Sie schüttelte sich und schaute sich suchend in dem lichtdurchfluteten Raum um. Das Geträller ging ihr bereits nach einem kurzen Augenblick auf den Senkel.
„Ist es nicht ein Ohrenschmaus?" Ein alter Mann, den sie aufgrund seiner weißen Toga und ebenso weißen Haare nicht vor dem weißen Hintergrund wahrgenommen hatte, drehte sich zu ihr um. „Komm doch her, mein Kind. Wir haben viel zu besprechen."
Statt ihm zu gehorchen, blieb sie wie angewurzelt bei der Tür stehen und musterte ihn feindselig. „Ich wüsste nicht worüber", knurrte sie ihn an.
„Ich fürchte, sie wird uns viel Arbeit bereiten." Eine große Männerhand drückte gegen ihren mittleren Rücken. Wütend fuhr sie herum, um dem Mann die Meinung zu geigen, verschluckte jedoch ihre Worte. Sieben hochgewachsene Engel standen ihr gegenüber, drängten in den Raum. Unwillkürlich wich sie immer weiter vor ihnen zurück. Das waren dann wohl die Generäle, von denen Goldlöckchen gesprochen hatte.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...