Das Mädchen saß regungslos in der Nische. Nur ihr Blick huschte hin und her, suchte den immer wieder an verschiedenen Orten hochquellenden dicken Nebel nach dem Mann ab. Vor einer halben Stunde hatte er sich mit einer kurz gemurmelten Entschuldigung entfernt, ihr zuvor befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Seitdem wartete sie auf seine Rückkehr. Ihr Geist wehrte sich dagegen, flüsterte ihr zu, den Augenblick zu nutzen und zu verschwinden. Doch ihre Beine verweigerten jeglichen Befehl. Wie festgeleimt blieb sie auf ihrem Platz sitzen, beobachte die teils gruseligen Figuren, die in den Schwaden auftauchten, ihr seltsame Blicke zuwarfen. Eine Frauengestalt löste sich von ihnen, schritt leichtfüßig auf Lissa zu.
„Ich bin Cassandra und soll dir Gesellschaft leisten", schnurrte die Frau. Eine rauchige, verführerische Stimme, die nicht zum jugendlichen Anblick passte. Wie die anderen verkleideten Menschen in diesem Bereich des Clubs, war es unmöglich, zu bestimmen, wie die täuschend echt aussehenden Teufelshörner angebracht waren. Die Haut rot geschminkt, ohne dass man die Make-up-Schicht sah. Schwarze Iriden, eindeutig farbige Kontaktlinsen. Sie hatte etwas Furchteinflößendes, gleichzeitig Anziehendes an sich.
„Ich bin Lissa", erwiderte das Mädchen zögernd. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Die Hitze im Raum schien weiter zuzunehmen. Schweiß lief in kleinen Rinnsalen ihren Nacken entlang. Schnell nahm sie einen neuen Schluck von ihrem Cocktail.
„Ich weiß, wer du bist. Genauso weiß ich, warum du hier bist." Cassandra lächelte freundlich, zog damit die Aufmerksamkeit von ihren Worten weg. „Doch du tappst noch im Dunkeln. Aber keine Angst, die Pläne meines Herrn bieten dir neue Möglichkeiten." Die Teufelin räkelte sich.
„Wie muss ich das verstehen?" Lissa wandte das Gesicht der Frau zu, in deren Hand wie von Geisterhand ein Getränk erschienen war. Das Mädchen runzelte die Stirn. Hatte sie das Glas zuvor übersehen? Hatte die Bedienung es im dichten Nebel gebracht? Ihr Magen verkrampfte. Der Ort wurde von Minute zu Minute gruseliger. Dennoch versagte ihr Verstand, der sie sonst vor brenzligen Situationen bewahrte.
„Du wirst es erfahren, wenn es soweit ist." Cassandra winkte jemanden zu, der in der dichten weißen Nebelwolke stand und sie zu beobachten schien. Lissa krallte die Finger in die Sitzfläche. Waren das seine Augen, die dort rot aufleuchteten? Dummes Mädchen, schalt sie sich in Gedanken. Das war nur ihre Einbildung, die durch die verschiedenen Sinneseindrücke verrücktspielte. Vor allem die Musik, eine Art Gesang in einer ihr fremden Sprache, die sie an Beschwörungen, Verzauberungen in Filmen erinnerte, jagte ihr trotz der Schwüle eiskalte Schauer über den Rücken.
„Löse dich von den Beschränkungen deiner kleinen Welt." Die Frau legte Lissa eine Hand auf den Arm, drückte sanft zu. „Unser Kosmos hat dir so viel mehr zu bieten, als du dir je erträumt hast. Das Einzige, was du dafür tun musst, ist das Angebot meines Herrn anzunehmen." Das Mädchen schaute auf die langen schlanken Finger, die sich wie kleine Schlangen um ihren Unterarm wanden. Wärme ausstrahlend, gleichzeitig eine eiserne Kraft demonstrierend, wirkte der Griff auf sie wie Fesseln, die ihr auferlegt wurden.
„Ich möchte nach Hause", flüsterte sie mit brüchiger Stimme. Tränen sammelten sich in ihren Augen.
„Und nach Hause wirst du morgen gehen", erwiderte Cassandra in einem sanften Tonfall, begleitet vom Trommelklang, der den Gesang ablöste. Die gleichmäßigen Schläge beruhigten ihren rasenden Puls, ließen wieder Gedanken zu. Von was für einem Kosmos redete die Frau? Das Weltall war nicht gemeint. Eine philosophische Bedeutung? Nur welche? Und was hatte das alles mit ihr zu tun?
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...