Freiheitsdrang

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Lissa tigerte im Raum auf und ab. Seit Tagen, seitdem Donn Kasdeya und ihre Spießgesellen auf eine falsche Fährte gelockt hatte, ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Er holte sie morgens ab, frühstückte mit ihr zusammen und begleitete sie dann ins Büro. Selbst zur Toilette folgte er ihr, für den Fall, dass ihr jemand dort auflauerte. Doch die Frauen verhielten sich erstaunlich friedlich. Zu ruhig für seinen Geschmack.

„Ach komm schon, ich möchte doch nur in der Mittagspause ein wenig nach draußen gehen." Das Eingesperrtsein nagte an ihren Nerven. Sie benötigte Spaziergänge im Park wie andere die Luft zum Atmen. „Mir wird schon nichts passieren."

„Tut mir wirklich leid, Lissa, aber ich kann und werde dir das nicht erlauben. Die Bande heckt etwas aus."

„Dann verschieb das Gespräch mit deinem Vater und begleite mich. Ich dreh hier drinnen noch durch."

„Solange du mir nicht wie von einem Poltergeist besessen die Wände hochgehst, wirst du dich mit der Lage arrangieren müssen. Setz dich wieder hin. Du machst mich noch ganz nervös." Er zeigte auf den einsamen Bürostuhl, den sie seit einer halben Stunde krampfhaft ignorierte.

„Ach komm schon. Nur eine Viertelstunde", bettelte sie, biss aber erneut bei ihrem Kollegen auf Granit.

„Nein, ist dir bewusst, was alles in fünfzehn Minuten passieren kann? Kommt gar nicht in Frage, dass du allein rausgehst. Das ist mein letztes Wort."

Der strenge Tonfall und sein ebenso garstiger Blick gefielen ihr nicht im Geringsten. Warum spielte er sich nur so auf? Schmollend setzte Lissa sich auf ihren Platz und versuchte, weiter an dem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Weder die Farbgestaltung noch die Auswahl der Formen fiel ihr dieses Mal leicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie nur noch eine bunte Wiese mit wilden Blumen und hochgewachsenen Bäumen im Hintergrund.

„Vielleicht heute Abend. Dann kann ich dich zum alten Friedhof fahren. Beim letzten Besuch hattest du ja wenig Zeit, die Natur zu genießen", schlug Donn in einem versöhnlicheren Tonfall vor. „Ich möchte doch einfach nur verhindern, dass dir etwas geschieht."

„Aber Kasdeya verhält sich momentan friedlich", warf sie ein. Die Aussicht, wenigstens nach der Arbeit an die frische Luft zu kommen, versöhnte sie zwar mit seinem besserwisserischen Verhalten, doch hoffte sie noch immer, ihn zu überzeugen, sie zum Mittag spazieren gehen zu lassen.

„Das ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Wenn Vater sie und ihre Freunde nicht bald fortschickt, wird das hier eskalieren. Gewöhn dich also besser daran, nichts mehr alleine zu unternehmen. Ich verstehe ja, dass es dich nervt, aber versuche bitte auch, meinen Standpunkt zu begreifen. Es ist einfach zu gefährlich."

Lissa beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sein drängender Tonfall hatte sie umgestimmt. Voller Sorge, nicht sein übliches überzeugtes Selbst. Womöglich hatte er recht und planten die Biester bereits die nächsten Gemeinheiten. Sonderlich überraschend wäre das nicht.

Sie arbeitete die nächsten Stunden konzentriert weiter und schaute verwirrt auf, als Donn seine Sachen zusammen kramte.

„Feierabend", teilte er ihr breit grinsend mit. „Wir sind so gut vorangekommen, dass wir es uns erlauben können, eine halbe Stunde eher aufzuhören. Oder hast du irgendwelche Einwände?"

Sofort fiel ihr der versprochene Ausflug ein. „Fahren wir jetzt zum alten Friedhof?" Bettelnd sah sie ihn an.

„Klar. Essen holen wir uns unterwegs. Na los, räum deinen Schreibtisch auf und lass uns von hier verschwinden. Nicht, dass mein Vater auftaucht und uns einen neuen Auftrag für unseren Stapel vorbeibringt."

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Eine Minute später sah ihr Platz picobello aus und fuhr sie ihren PC runter. „Meinetwegen können wir los." Sie rieb sich vergnügt die Hände.

„Dein ausgeprägter Freiheitsdrang überrascht mich immer wieder." Amüsiert schüttelte Donn den Kopf. „Aber du hast recht. Es spricht nichts gegen einen romantischen Spaziergang auf einem verlassenen Friedhof. Vor allem, wenn es bereits dunkel ist."

„Sehr witzig", murrte Lissa. „Darf ich dich daran erinnern, wann wir einander zum ersten Mal begegnet sind? Mitten in der Nacht."

„Aber leider nicht auf einem Friedhof. Könnten die Toten sprechen, würden sie uns zujubeln, weil wir das Leben genießen." Er wollte noch etwas sagen, wurde aber von ihrem knurrenden Magen unterbrochen. „Allerdings sollten wir erst einmal die Bestie füttern, damit du für unseren Spaziergang bei Kräften bleibst."

Lachend folgte sie Donn zur Tiefgarage, wo sein Auto wartete. Nicht mehr lange und sie würde wieder den Wind um die Nase spüren. Das war tausend Mal besser, als in einem stickigen Büro zu sitzen. Es stimmte, ihr Freiheitsdrang war ungewöhnlich, doch genauso außergewöhnlich war mittlerweile ihre Freundschaft zu dem Sohn ihres Bosses.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt