Polaroid

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Einige Stunden später saß Lissa leise schimpfend im Nobiskrug, beziehungsweise in einem Raum darüber. Donn hatte sie ohne zu fragen in sein Auto gesetzt, nachdem er sie im Restaurant über seine Schulter geworfen und zum Wagen getragen hatte. Ein Nein akzeptierte der Dickkopf nicht. Wenigstens saß sie nicht unten in den Gefilden der Hölle, wie sie den überhitzten VIP-Bereich insgeheim nannte. Ihr Kollege hatte sie stattdessen mit in ein Büro geschleppt.

„Was soll ich hier? Ich hätte mir auch ein Taxi für die Fahrt nach Hause rufen können." Sie wippte ungeduldig mit der rechten Fußspitze auf und ab. Sie hatte das Bein über das Linke geschlagen und hing halbwegs auf dem Sofa. Gerades Sitzen war zwischen den weichen Kissen schier unmöglich. Sie überlegte, ob sie nicht besser gleich den Kampf aufgab und sich lieber auf der Bank zusammenrollte. Wenigstens war es nur ein Möbelstück, das sie gefangen hielt, nicht die Arme des Mannes, der angestrengt auf einige Papiere starrte, die vor ihm auf dem riesigen Schreibtisch lagen.

„Das Leben ist zu kurz, um es mit Schlafen zu verbringen." Donn schaute von den Unterlagen hoch. Das Licht der altmodischen Schreibtischlampe, die einem Film Noir über die Zwanziger Jahre entsprungen zu sein schien, ließ seine Augen rötlich aufleuchten. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Das weiße Hemd passte. Fehlten nur noch Hosenträger und ein Fedora und Donn hatte eine gewisse Ähnlichkeit zu den Mafiosi aus der Zeit von Al Capone. Nur war bei denen nicht ein Großteil des Körpers und erst recht nicht das Gesicht tätowiert. Lissa zog die Nase kraus, kämpfte sich aus den Kissen hervor.

„Wenn ich nicht schlafen soll, hättest du mich nicht auf dem Sofa absetzen sollen. Das schreit doch nur danach, dass man sich hinlegen soll." Das Mädchen stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dehnte in den Brustkorb hinein. Ihr Kollege beobachtete sie eingehend und leckte sich demonstrativ über die Lippen, als ihre Blicke sich trafen.

„Du darfst dich auch auf meinen Schoß setzen." Ein schelmisches Grinsen begleitete die sexuelle Andeutung. Lissa schürzte die Lippen. Dieser Mann schaffte es immer wieder, sie anzuwidern.

„Soll ich mich vorher ausziehen?" Sie zog eine Augenbraue hoch, stemmte eine Faust in die Seite.

„Wenn es dir nichts ausmacht", schnurrte ihr Gegenüber, knöpfte sein Hemd langsam auf. Hatte der jetzt völlig den Verstand verloren? Kopfschüttelnd wandte sie sich ab, lief zu einer Wand, die mit Bücherregalen zugestellt war. Mit den Fingerspitzen fuhr sie die Buchrücken entlang. Hemingway, Poe, Mark Twain, William Faulkner, Shakespeare. Dazu viele Namen, von denen sie noch nie im Leben gehört hatte. Wer war Jules Verne? Wer Victor Hugo? Molière?

„Hast du die alle gelesen?" Sie drehte sich zu Donn, der abermals über den Dokumenten brütete. Eine Hand in den schwarzen Haaren vergraben, die so unwiderstehlich weich aussahen. Ob sie sich auch so anfühlten? Was dachte sie da? Ihr Kollege war ein Weiberheld, von dem sie besser die Finger ließ.

„Habe ich. Kann dir von jedem Buch hier eine Zusammenfassung geben." Er sah hoch, deutete auf seinen Schoß. „Oder du setzt dich und ich lese dir etwas vor."

„Träum weiter." Nie im Leben. Sie zeigte ihm einen Vogel und lief zu einer Stelle, die nicht von Bücherregalen bedeckt war. Stattdessen prangten hier die unterschiedlichsten Fotos. Alte Sepiafarbene, Schwarzweiße, später Bunte. Lissa kniff die Augen etwas zusammen. Die Männer auf den Bildern ähnelten Donn und seinem Vater. Wie zum Verwechseln. Entweder waren die Situationen mit der zur jeweiligen Epoche passenden Kleidung nachgestellt oder ihre Vorfahren sahen genauso aus wie sie. Das Mädchen rieb sich über die Arme, wo sich kleine Härchen wie Zinnsoldaten in Reih und Glied aufstellten. Die Ähnlichkeit war zu gruselig. Noch etwas fiel ihr auf, vor allem bei den Farbbildern. Die Augen der Männer schienen rot zu leuchten. Nicht so wie bei den anderen Personen, ausgelöst durch den Blitz beim Aufnehmen. Eher, als wenn es sich eben nicht um eine Spiegelung des Lichts handelte, sondern aus ihrem Innern drang.

„Faszinierend, nicht wahr", hauchte ihr Kollege ihr mit seiner tiefen Stimme ins Ohr. Donn war unbemerkt hinter sie getreten. Sie wagte es kaum, zu atmen, zu intensiv und verlockend war sein Geruch. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, erreichte ihren Rücken, strich um sie, wie ein hungriges Raubtier.

„Mit was für einer Kamera wurden die Fotos geschossen?" Sie schluckte, versuchte krampfhaft, seine Nähe auszublenden. Nur ein Schritt nach hinten und sie würde gegen seine Brust stoßen. „Ich kenne keine Bilder, die sonst unten einen so dicken weißen Streifen haben."

„Polaroid", lautete seine simple Antwort. Sie drehte sich zu ihm um, zog die Augenbrauen fragend hoch. „Polaroid hatte die ersten Sofortbildkameras, wenn ich mich recht entsinne. Das lästige Entwickeln dauerte nicht lange. Nicht wie bei den Kameras, in die man einen Film einlegen und später zu einem Fotostudio bringen musste. Das waren andere Zeiten, ohne Smartphones und Digitalkameras. Wenn jetzt ein Foto nicht gelingt, löscht man es einfach. Früher wartete man wochenlang darauf, die Bilder entwickelt zu erhalten. Nur, um dann festzustellen, dass entweder ein Daumen im Bild oder die Aufnahme verschwommen war." Er lachte leise. „Das Warten sparte man sich mit einer Polaroid-Kamera. Aber das war lange vor deiner Zeit."

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt