Die Hände im Schoß gefaltet wartete Lissa auf dem Sessel vor Hadals Büro. Blutrotes Leder, schwarzer Teppich. Besser als andersherum, überlegte sie. Dann säße sie auf einem Stück verkohlten Holzes, mit einem Fluss aus Blut zu ihren Füßen. Sie verzog die Miene. Wieso suchten solche Assoziationen sie immer heim, wenn sie auf ein Gespräch bei ihrem Chef wartete? Dem Höllenfürsten persönlich, der über seine Dämonen und Helferlein richtete.
Sie seufzte. Der Schlafmangel der vergangenen Nächte trieb sie langsam in den Wahnsinn. Die Sorge um ihren Vater, dessen Zustand sich kontinuierlich verschlechterte. Zumindest lagen die Prüfungen hinter ihr. Jetzt war es weniger schlimm, wenn sein Husten sie nachts aus dem Schlaf riss. Im Büro wurde sie kaum behelligt. Es schien, als ob die Kollegen Rücksicht auf sie nahmen, obwohl sie ihnen nichts erzählt hatte. Selbst Donn verhielt sich liebenswürdig, brachte ihr oft eine Leckerei aus der Kantine mit, wenn sie sich an ihrem Arbeitsplatz abschottete, um dem geselligen Treiben aus dem Weg zu gehen. War das der Grund, dass ihr Chef sie zu sich bestellt hatte? Bevor sie eine Möglichkeit erhielt, weiter darüber nachzudenken, öffnete sich die Tür.
„Komm bitte herein, Lissa." Hadal wies mit einer einladenden Geste zu seinem Sofa. Sie straffte den Rücken, folgte seiner Aufforderung. Schwäche zu zeigen widerstrebte ihr. Selbst wenn der Boss eine Standpauke für sie in petto hatte, sie würde Haltung bewahren. Ein Tipp Cassandras, die ihr dabei half, ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. „Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?"
„Ein Wasser, bitte." Sie leckte sich über die trockenen Lippen, ihre Kehle war wie ausgedörrt und ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen.
„Eine ausgezeichnete Wahl." Der Mann lief zum Sideboard, packte eine große Flasche Mineralwasser und zwei Gläser, die er mit einem Klirren vor sie auf den Glastisch abstellte. Das leise Plätschern beim Eingießen fachte ihren Durst noch weiter an. Wie hielt ihr Chef es nur in dieser Hitze aus? In seinem Büro kam ihr die Temperatur grundsätzlich um einige Grad wärmer vor als im Rest des Gebäudes. Von den Kellergeschossen mal abgesehen. Sie verstand nach wie vor nicht, wie das Bürogebäude geheizt wurde. „Hier, trink. Du siehst halbverdurstet aus." Er reichte ihr ein Trinkglas, riss sie aus ihren Überlegungen. Gierig stürzte sie den Inhalt hinunter, erfrischte ihren Hals.
„Sie wollten mich sprechen?" Eine reine Floskel, denn es war offensichtlich, dass er ein Gespräch suchte. Sonst säße sie kaum in seinem Büro, hätte er sie nicht hierhergebeten.
„Ja, das wollte ich. Erzähl, wie macht sich mein Sohn? Verhält er sich tadellos und beteiligt sich an den Aufträgen?" Daher wehte der Wind. Lissa unterdrückte ein Schmunzeln, legte die Stirn in Falten, um angestrengtes Nachdenken zu imitieren.
„Wir haben ab und an unsere Differenzen", spielte sie auf sein Benehmen an, ohne es konkret zu benennen. „Momentan arbeiten wir an unterschiedlichen Themen. Wir haben festgestellt, dass wir auf diese Art weitaus mehr schaffen. Wenn einer nicht weiterkommt, fragt er den anderen nach Feedback. Probleme werden so schnell aus dem Weg geschafft. Säßen wir zu zweit an einer Sache, sähe die Sachlage vermutlich anders aus, da wir zuweilen recht unterschiedliche Ansichten haben. Jede für sich führt zum gewünschten Ergebnis, doch würde uns eine Diskussion nur aufhalten."
„Interessant." Hadal rieb sich über das Kinn. „Du bist die erste Mitarbeiterin, die es schafft, mit ihm auszukommen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich in deiner Gegenwart mehr zusammenreißt. Cassandra und er haben mehrfach im Streit die Einrichtung zerlegt. Zwei Hitzköpfe wie sie im Buche stehen." Lissa unterdrückte ein Schnauben. Zu oft hatte sie schon kurz davorgestanden, Donn einen Locher oder Tacker an den Kopf zu werfen. Ob das so hohl klang, wie sie erwartete? Wieso sprach ihr Chef nicht weiter, musterte sie stattdessen? Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als ob er ihre Gedanken gelesen hatte. Eine Idee, die ihr trotz der Hitze im Raum einen eisigen Schauer die Wirbelsäule entlang jagte.
„Wünschen Sie noch etwas?" Sie schluckte den in ihrem Hals wachsenden Kloß hinunter.
„Ja, ich wollte mich noch bei dir bedanken, Lissa. Wie erhofft weckst du Donns Pflichtgefühl. Trotz seines zuweilen inakzeptablen Verhaltens gibst du nicht auf, sondern wächst mit deinen Herausforderungen. Du zeigst damit eine Agilität, die ihresgleichen sucht. Immer darauf bedacht proaktiv zu handeln, intuitiv mit Veränderungen umzugehen, lässt du dich nicht aus dem Tritt bringen. Du weichst, wenn notwendig vom vorgegebenen Pfad ab, um hinterher ein besseres Ergebnis abzuliefern. Du beweist mir jeden Tag aufs Neue, dass es die richtige Entscheidung war, dich einzustellen. Weiter so!" Seine lobenden Worte gingen runter wie Öl. Wenn nur Donn so herzlich wäre wie sein Vater! Dem Dickkopf stände es gut, würde er ebenfalls mehr Agilität zeigen.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...