Heldentum

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Michael zerrte sie hinter sich her in den Garten, wo er sich mit den Händen in die Seiten gestemmt vor ihr aufbaute. „Jetzt hör mir mal gut zu. Du wirst dich von dem Teufel abwenden und einen von uns heiraten. Ich habe deine Nörgelei satt."

„Nörgelei? Ich habe ja wohl ein Recht dazu, mich aufzuregen. Ihr habt meine Freundin und mich überfallen lassen, sie betäubt und mich gegen meinen Willen hierher verschleppt." Das Blut raste ihn Lissas Adern. Wenn sie doch nur eine Waffe hätte, mit der sie diesen nervtötenden Kerl verstummen lassen könnte! „Ich bringe euch der Reihe nach um, damit ich keinen von euch heiraten muss. Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich freiwillig hier in diesem Luftschloss bleibe."

„Solange dir keine Flügel wachsen, wirst du hier wohl kaum wegkommen", erwiderte er in einem gehässigen Tonfall. „Guck dir die Blumen an, genieße den himmlischen Gesang und werde dir klar darüber, wen von uns du heiraten möchtest." Er ließ sie stehen und stiefelte zurück in den Palast.

„Arschloch", murrte sie und kickte einige schneeweiße Kiesel gegen einen Brunnen aus Marmor. „Wie halten die das hier nur aus?"

„Indem sie sich die Welt hier oben schönreden." Goldlöckchen tauchte unvermittelt vor ihr auf und bot ihr seinen Arm an. „Wie hat der Alte auf deine Abweisung reagiert? Haben seine Generäle angefangen zu weinen?"

„Wieso willst du das wissen?" Misstrauisch betrachtete sie den Engel, der ihren Arm packte, damit sie sich bei ihm einhakte.

„Lass uns mal in den hinteren Bereich gehen." Er führte sie an Beeten mit duftenden Blumen vorbei. An einem Pavillon, wo erneut Kinder ein Lied trällerten. Ein Stück weiter zupfte eine Frau mit verzücktem Gesicht an einer Harfe. „Furchtbar, ich weiß", wisperte er Lissa zu, die alles angewidert betrachtete. „Setz dich", wies er sie schließlich bei einer rustikalen Holzbank an.

„Wie kommt es, dass die hier nicht ebenfalls weiß gestrichen mit goldenen Verzierungen ist?" Allgemein wirkte der Garten in diesem Abschnitt weniger geordnet, mehr dem Zufall überlassen.

„Weil sich hier nur die einfachen Engel aufhalten. Wir legen nicht so viel Wert auf den übertriebenen Prunk. Den Schein einer perfekten Welt, in der die Mächtigen nur auf den Fehler eines anderen warten, um seinen Platz zu übernehmen."

„Klingt ja verlockend", murrte sie. „Müsstest du mir nicht eher erzählen, wie toll hier alles ist, statt es noch madiger zu machen?"

„Sollte ich, aber ich bin es satt, mich an die Regeln des Alten zu halten." Goldlöckchen seufzte. „Die Kleine, die du gerettet hast." Er verstummte kurz, schien sich zu sammeln. „Ich habe sie von ihrer Geburt an begleitet. Gesehen, wie sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Wie sie den Tod ihrer Mutter miterlebte. Sie wegen der kriminellen Machenschaften ihres Vaters gekidnappt wurde." Der Mann atmete tief durch. „Nie durfte ich eingreifen. Sollte aufpassen, dass ihr bis zu dem Tag, an der ihre Seele geerntet werden sollte, nichts zustieß." Er stieß die Luft laut durch die Nase aus. „Ich habe es satt, anzusehen, wie Kinder zugrunde gehen. Wie sie für die perfiden Pläne des Tattergreises sterben. Ich kann einfach nicht mehr."

„Die Kleine heißt Ana. Eine Dämonin kümmert sich liebevoll um sie."

„Ich weiß." In seinen Augen schimmerte es feucht. „Ich habe euren Laternenumzug beobachtet und gesehen, wie sehr sie sich am Leben erfreut. Ich danke dir, Lissa, dass du ihr diese Chance gegeben hast. Und auch Azrael danke ich dafür."

Erneut dieser seltsame Name. Sie beschloss, wegen etwas anderem nachzuhaken. „So wie du über sie sprichst, scheint sie dir sehr wichtig zu sein. Wie ein eigenes Kind."

„Sie ist meine Tochter." Er schaute Lissa durchdringend an. „Jedes Kind, dessen reine Seele früh geerntet werden soll, erhält einen Teil von uns, ist zu einem winzigen Anteil von Geburt an ein Engel. So können wir euch immer folgen und, wenn nötig, eingreifen."

„Das bedeutet..." Lissa riss die Augen weit auf.

„Dass du ebenfalls Engelsblut in deinen Adern fließen hast. Deswegen ist der Alte auch so sauer. Einst hat er einen reinen Engel an den Teufel verloren, eine wunderschöne Frau, die dem Höllenfürsten einen Sohn gebar. Und jetzt du, die vorgesehen war, einen seiner Generäle zu heiraten. Aber dafür ist es zu spät. Du hast deinen Seelenpartner bereits gefunden. Azrael, der Engel des Todes."

„Donn", murmelte sie. Verdammt, wie kam sie nur wieder zu ihm?

„Es wird Zeit. Er wartet auf dich." Goldlöckchen erhob sich. Mühelos hob er Lissa hoch und trug sie weg vom Palast und dem geschäftigen Treiben der Engel. Er lief weiter, in einen dunklen Wald hinein, bis er sie vor einem alten metallischen Tor zurück auf ihre Füße stellte. „Das Heldentum ist mit Risiken behaftet, die ich nie eingehen wollte, doch ist es der einzige Ausweg, um den Greis zu stoppen. Für dich und meine Tochter werde ich zum Helden. Oder zum Verräter, je nachdem, wie man es betrachtet."

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt