Raffinesse

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„Du weißt, was du zu tun hast?" Cassandra sah sich um, als ob sie fürchtete, dass Donn in jedem Augenblick zur Tür hereinkam. Lissa nickte. Diesem verflixten Mistkerl würden sie es schon zeigen. Womöglich war es kindisch, sich an ihm zu rächen. Andererseits benötigte der Sohn ihres Arbeitgebers dringend einen Denkzettel. Seit einem halben Monat arbeitete sie gezwungen mit ihm zusammen. Zwei Wochen, in denen er sie drangsalierte, sie zum Kaffeekochen schickte oder sie seine Bleistifte anspitzen ließ. Ganz so, als wäre sie nur eine ungelernte Hilfskraft ohne Schulabschluss. Doch damit war jetzt Schluss!

„Natürlich", brummte das Mädchen. „Ich kann es kaum erwarten, ihm die Gemeinheiten heimzuzahlen." Sie tauchte ein letztes Mal unter seinen Tisch ab, kontrollierte die verschiedenen Kabel für Tastatur, Maus und seine zwei Grafik-Tablets. Fein säuberlich ineinander verknotet, keinen Spielraum lassend, um die Gegenstände näher an die Tischkante heranzuziehen. Selbst schuld, dass er keine schnurlosen Apparaturen verwendete.

„Fantastisch. Ich bin dann mal weg." Bevor Lissa unter dem Schreibtisch hervorgekrochen war, hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Jetzt schnell auf den eigenen Platz, ehe die Nervensäge auftauchte. Wenn er sie bei der Vorbereitung erwischte, war der sorgsam ausgeklügelte Plan dahin. Kritisch schob sie den Becher mit dampfenden Kaffee zurecht, damit dieser vor den Tablets stand. Donn ließ grundsätzlich aus Faulheit alles im Weg herumstehen, hantierte stattdessen umständlich herum. Das würde ihm heute zum Verhängnis werden. Das Mädchen biss sich auf die Lippe, verscheuchte krampfhaft ein hämisches Grinsen. Sie eilte zu ihrem Stuhl und warf sich auf ihn. Ihr Blut rauschte in ihren Ohren. Hatte sie womöglich etwas übersehen, was sie verriet? Sie schüttelte den Kopf. Der Plan war zu raffiniert. Hinterher würde genügend Zeit sein, alles in den ursprünglichen Zustand zurückzubringen.

„Wie ich sehe, hast du dieses Mal an meinen Kaffee gedacht. Braves Mädchen." Der Sohn ihres Arbeitgebers stolzierte herein wie ein aufgeblasener Pfau. Er fläzte sich in seinen Bürostuhl, als ob das gesamte Gebäude und alle Mitarbeiter ihm gehörten. Lissa schwieg, tippte geschäftig auf ihrer Tastatur herum und versteckte sich hinter ihren Bildschirmen. Zu groß war die Furcht, dass er ihre Nervosität bemerkte. „Hast du dich schon um den neuen Werbeprospekt gekümmert?"

„Ich dachte, du machst das? Dein Vater hat dir die Aufgabe übertragen, nicht mir." Sie stoppte mit dem Schreiben, linste zu dem attraktiven jungen Mann, der sich auf seinem Platz zurücklehnte, die Hände untätig im Nacken verschränkt. In seinen Augen, die so eisblau wie Hadals waren, blitzte es auf. Welche Gemeinheit hatte er jetzt wieder in petto?

„Wozu habe ich denn meine kleine Sklavin hier? Das kannst du schön zu deinen anderen Aufgaben dazu machen." Er wandte den Blick zur Zimmerdecke. „Oder du siehst endlich ein, dass du nicht hierhergehörst und kündigst."

„Vergiss es", zischte sie. In ihren Adern brodelte es. Wie so oft, seitdem sie für seinen Vater arbeitete. Wenn die Bezahlung nur nicht so großzügig wäre. Sie presste die Zähne aufeinander, atmete geräuschvoll durch die Nase aus. „Dein Kaffee wird übrigens kalt."

„Du wirst schon noch aufgeben. Dafür werde ich sorgen." Er lachte leise, von sich selbst überzeugt. „Da du meine Arbeit so nett übernimmst, werde ich dann mal ein wenig im Internet surfen." Lissa hielt die Luft an. Gleich war der Augenblick der Rache gekommen. „Was zur Hölle?" Sie hörte, wie die Tastatur gegen den Becher knallte. Die Maus schien über die Arbeitsfläche zu rutschen, genau wie die zwei Grafik-Tablets. Lissa unterdrückte ein Kichern.

„Netter Versuch, Engelchen", spottete ihr Gegenüber. „Das hast du dir mit Sicherheit anders vorgestellt, nicht wahr?" Er stand auf, den fast bis zum Rand gefüllten Kaffeebecher in der Hand, und umkreiste die Schreibtische. Direkt hinter ihr blieb er stehen, beugte sich hinunter. Sein warmer Atem streifte ihre Haare, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus. Zu nah. „Weißt du, Kleines," hauchte er Lissa ins Ohr, „um mich hereinzulegen, musst du schon früher aufstehen. Was mache ich jetzt mit dir?" Er stellte den Becher neben ihrer Hand ab. Sie zog die Nase kraus. Widerlich, dieses Gesöff. Wie bekam er das nur jeden Tag runter? „Dich ungestraft davonkommen zu lassen, das wäre unangebracht. Da kommt mir doch glatt eine grandiose Idee." Bei seinem leisen Lachen richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Tausende Ameisen mit winzigen Schuhen aus Eis wanderten ihre Wirbelsäule entlang.

„Was hast du vor?" Sagte er es seinem Vater, warf dieser sie aufgrund ihres kindischen Verhaltens mit Sicherheit raus. Hatte sie Donn etwa die perfekte Gelegenheit geliefert, sie loszuwerden? War alles nur ein abgekartetes Spiel von ihm und Cassandra? Hatte diese ihm vom Plan erzählt? Lissa zog den Kopf ein. Warum hatte sie ihre Rache nicht allein geplant und durchgeführt? Weil ihr die gewisse Raffinesse fehlte. Die Feinheiten der Heimtücke waren ihr unbekannt. Sie seufzte. Wieso hatte sie sich nur auf die Aktion eingelassen? Jetzt hatte sie ein weitaus größeres Problem.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt