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Der Protagonist hat sein Vorstellungsgespräch überlebt. Insgesamt war er sogar sehr zufrieden mit dem Ergebnis, hatte er sich doch gut präsentieren können und war freundlich behandelt worden. Er wusste, dass er mit den Mitteln und dem Wissen, das er jetzt gerade hat, das best mögliche getan hatte. Ob es reicht oder nicht, das würden die nächsten Wochen zeigen. Immerhin hatte man ihm gesagt, dass er spätestens am 11. Juni eine Antwort erhält, was ihm verhältnismäßig viel vorkam. Da er glaubt, dass das Gespräch auch für die andere Seite gut verlaufen war, ist er aber guter Dinge. Er würde sich allerdings auch nicht zu sehr ärgern, wenn es nicht klappen würde. Tief in sich drin war er der Überzeugung, dass genau das passieren würde, das am besten für ihn wäre.

Auf dem Nachhauseweg hatte er bereits seiner Freundin und Familie geschrieben, die alle gespannt auf seine Nachricht warteten. Nach einem schnellen Frühstück hatte er noch alles restliche eingepackt und war dann zum Bahnhof gegangen. Laut App würde der Zug heute doch fahren, obwohl er ja gestern die E-Mail mit dem Ausfall bekommen hatte. Naja, er würde sich überraschen lassen, dachte er sich. Erstaunlicherweise war es in den ersten Zügen sehr voll, aber der Protagonist wollte ruhig bleiben. Heute ging es ihm nur darum, überhaupt ans Ziel zu kommen. Wie das passieren würde, war ihm mehr oder weniger egal.

Tatsächlich war der angeblich ausgefallene Zug doch dort, allerdings so voll, dass nicht alle rein passten. Der durchschnittliche Zugfahrer sieht sowas nicht ein und hält die Tür unnötig offen, sodass man dann 30 Minuten zu spät los fährt. Dadurch hat der Protagonist seinen letzten Anschluss nicht geschafft, was ihn aber wenig kümmert, kommt auf dem letzten Abschnitt doch jede Stunde ein weiterer Anschluss.

Als alle anderen hektisch aussteigen wollten, wartete er einfach ab und verließ als letzter den Zug. So entspannt war er sonst nie, aber ihm war ja klar, dass er den Anschluss bereits um 10 Minuten verpasst hatte. Da es an der Haltestelle keine Bänke gab, setzte er sich auf den Fußboden. Als Kind ging das ja auch problemlos, warum also jetzt nicht mehr? Dort aß er dann seine belegten Brötchen und machte sich Sorgen, ob er einen Sonnenbrand bekommen würde. Immerhin knallte die Sonne direkt in sein Gesicht. Trotz gefühlten 40 Grad zog er also seine Jacke über, um seine Arme zu schützen, während er auf den Anschluss wartete.

Seine Familie war deutlich weniger entspannt und schicke ihm immer wieder Nachrichten, dabei mussten sie nichts tun außer Zuhause auf ihn warten. Er verstand den ganzen Wirbel um seine Verspätung nicht, tangierte das doch gerade niemanden außer ihn selbst. Aber das erinnert ihn daran, warum er wohl überhaupt so schnell genervt und gestresst war, war das in seiner Familie doch so üblich. Vermutlich hatte er das aus Gewohnheit übernommen, man kopiert ja immer die nächste Autoritätsperson. Das heißt aber nicht, dass er es beibehalten muss.

Im Anschluss gab's das gleiche Problem, es gab wieder ein paar Leute, die nicht einsehen wollten, dass sie nicht mitfahren können, da es zu voll ist. Der Protagonist kann das nachvollziehen, wäre er doch wahrscheinlich auch sauer, hätte er noch eine Stunde warten müssen.

Nun ließ sich gar nicht mehr aufhalten, dass der Protagonist am Ende des Tages seine Familie sehen würde. Auch wenn Urlaub immer nett ist, war es bei seiner Familie meistens nicht besonders erholsam. Die Stimmung ist wirklich schlecht. Seine Eltern waren immer so passiv aggressiv und das völlig ohne Grund. Außerdem sahen sie auch nie ein, dass jüngere Menschen tatsächlich eine Meinung haben können, die von ihrer Meinung abweicht. Generell ist die Atmosphäre dort toxisch. Meistens fühlte sich der Protagonist schlechter als vorher, wenn er dann zurück nach Hause fuhr. Aber auf Abstand fand er seine Familie immer nett. Dann verhielt sich seine Mutter verständnisvoller und sein Vater schrieb meistens eh nichts. Mit allen anderen in der Familie hatte er kaum Probleme, außer noch seine Tanten.

Für morgen nimmt sich der Protagonist vor, sich nicht zu sehr aus der Ruhe bringen zu lassen, wenn er mit seinen Verwandten spricht. Er möchte sich auch nicht zu sehr über Fragen über sein Studium/seine Arbeit aufregen. Niemand von seinen Verwandten kann einschätzen, wie viel Stress oder sonst was er hat, und deshalb sind auch ihre Kommentare völlig überflüssig. Normalerweise regte er sich so sehr darüber auf, aber eigentlich gab es keinen Grund dazu. Er würde nichts daran ändern können, hatte er doch schon oft genug versucht, das anzusprechen. Nur weil andere Menschen mit ihrem Leben unzufrieden sind, gibt es noch lange keinen Grund, so pessimistisch gegenüber dem Protagonisten zu sein. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, seine Eltern wünschten ihm, sein Leben würde noch beschissener werden als ihr eigenes.

Für den ganzen Urlaub nimmt er sich vor, nicht zu viel über die Arbeit nach zu denken. Er möchte wirklich entspannen. Ihm ist außerdem inzwischen aufgefallen, dass er sein Buch im Regal stehen lassen hat, aber man würde sich wohl auch anders beschäftigen können oder ein neues kaufen.

Am Abend hat er dann noch mit seiner Familie gegrillt. Dabei wurde wie immer verhältnismäßig wenig mit ihm gesprochen. Das ist er aber gewohnt, beim Essen wird er immer ignoriert. Erst danach kommt es zu richtigen Gesprächen, wobei diese oft nur zwischen seinem Vater und seiner Schwester stattfanden und er dabei genauso überflüssig war. Würde er sich jedoch vom Tisch weg setzen, wären wieder alle beleidigt, dabei ist es einfach nicht so gemütlich in der Küche.

Der Protagonist freut sich schon darauf, heute Abend wieder let's dance zu gucken, obwohl sein Vater dabei immer abwertende, sexistische und beleidigende Kommentare über die Teilnehmer abgab. Der Protagonist würde versuchen, das zu ignorieren. Und dann würde er sicherlich zügig einschlafen, da er von der langen Reise sehr kaputt war. Er hoffte außerdem, morgen ausschlafen zu können, hatte er das schon lange nicht mehr richtig gekonnt, selbst am Wochenende nicht.

Morgen wird der Protagonist berichten, wie er mit den seltsamen Diskussionen mit der Familie klar kommt, sollte es welche geben.

100 Positive TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt