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Der Protagonist ist schlecht gelaunt. Seit gestern Nacht schon. Und das völlig ohne Grund. Er hat keine Lust, heute am Leben zu sein. Aber da es keinen Ausknopf und auch kein Stand-by gibt, hat er wohl keine Wahl. Nach den absurdesten Träumen war er im Halbschlaf in das Badezimmer gegangen. Heute wollte er sich mal mehr Zeit nehmen, für das Vorstellungsgespräch muss man vernünftig aussehen. Er hatte sogar seine Haare gebürstet und das tut er sonst nur selten.

Bei dem Vorstellungsgespräch war er so höflich wie möglich. Er war aufmerksam und interessiert. Manchmal muss man ein guter Schauspieler sein. Aber das Problem war, dass er die Menschen dort nicht ausstehen konnte. Die hilten sich für etwas besseres, für etwas ganz tolles. Und der Protagonist mag sowas nicht. Jeder Mensch ist seiner Meinung nach gleich viel wert. Egal, was er in seinem Leben geleistet hat und welchen Job er hat. Das Gespräch ist seiner Meinung nach katastrophal verlaufen, aber das liegt wohl auch daran, dass er mit den vier anwesenden Frauen nicht klar gekommen ist. Das hat er sich nicht anmerken lassen, also wird es jetzt die Zeit zeigen, ob diese das Gespräch genauso schlimm fanden oder ihn doch einstellen.

Noch während des Gesprächs schrieb sein Chef ihm, dass eine Kundin vor Ort ist. Sie würde nun warten, bis der Protagonist da ist. Dabei wusste sein Chef ganz genau, dass er heute eine Stunde später kommen würde, weil er früh morgens das Vorstellungsgespräch hatte. Nach diesem sprintete er also los, damit die Kundin nicht zu lange warten muss. Das hat natürlich dazu geführt, dass er unnormal schwitzte und das war genauso unangenehm gegenüber der Kundin, die eine wirklich banale Frage hatte, die sein Chef und auch die Sekretärin mit Sicherheit hätten beantworten können.

Da die Sekretärin nächste Woche im Urlaub sein würde, musste er ihr helfen, alles für ihre Abwesenheit vor zu bereiten. Eigentlich war das gar nicht viel und seine Hilfe nicht notwendig, aber sie hatte darauf bestanden. Und es hatte sich dann doch so gezogen, dass er danach direkt hätte nachhause gehen können. Aber weil er 40 Minuten zu spät bei der Arbeit war, oder zumindest später als sonst, blieb er etwas länger. Sein Chef wollte unbedingt von ihm wissen, wie das Bewerbungsgespräch verlaufen war. Als der Protagonist erzählt hatte, wie grauenhaft er alles fand, sagte sein Chef nur, dass sie zu zweit nochmal an einem besseren Angebot arbeiten würden, damit der Protagonist beim Unternehmen bleibt. Aber das will er eigentlich ja nicht.

Er ist aber wohl nicht dumm, also müsste er, je nachdem, wie die Reaktion nach dem Gespräch heute nun verlaufen würde, tatsächlich mit seinem Chef verhandeln. Denn er hält es nicht mehr aus, ständig in diesem Zwischenzustand zu sein. Es wäre gut, zumindest ein wenig mehr Geld zu bekommen als den Mindestlohn und währenddessen weiter nach einer neuen Stelle zu suchen. Es sei denn, er würde nach dem Vorstellungsgespräch tatsächlich eingestellt werden. Das würde jedoch eher einem Wunder gleichen, zumindest wenn es nach dem Gefühl des Protagonisten geht.

Zuhause angekommen, hatte er erstmal seine Schuhe und Socken ausgezogen. Mit den schicken Anzugschuhen zu laufen, das hatte seinen Füßen Schmerzen bereitet. Und das, obwohl er Druckpflaster auf die Stellen geklebt hatte, die ihm darin immer besonders weh taten. Die hatten tatsächlich gar nicht geholfen, er hatte sogar eine Blase unter dem einen Druckpflaster und am anderen Fuß zwei Blasen, die direkt über dem Pflaster lagen. Das hatte auch dazu geführt, dass er heute das Haus nicht mehr verlassen wollte, er fand, dass er seine Füße ausruhen müsste.

Zwei Scheiben Brot und der Rest Erdbeeren von gestern konnten seine Stimmung nicht heben. Er saß vor seinem Computer und überlegte, wie er den restlichen Tag nutzen könnte. Aber viel wollte ihm nicht einfallen. Er wollte das Haus nicht mehr verlassen, hatte seine "Draußen-Kleidung" zur Seite gelegt und irgendwie taten ihm auch die Beine weh. Yoga oder tanzen wäre also auch unangebracht. Er entschied sich, das nächste Buch an zu fangen. Das finnische, das von der gleichen Autorin ist, wie beim ersten mal, als er auf Finnisch gelesen hatte. Und nach einem Kapitel kann er sagen: viel versteht er nicht. Es liegt also an dem Schreibstil der Autorin. Er kann verstehen, dass dieser für einen Muttersprachler schön sein muss. Das erkennt man daran, wie die Worte an einander passten. Es wäre schon allein beim Vorlesen ein schönes Erlebnis. Aber das ändert nichts daran, dass er die Worte nicht verstand.

Nach dem ersten Kapitel, was sich richtig zog und zu seiner schlechten Laune beitrug, entschied er, alles noch einmal auf Deutsch zu lesen. Mit seinem Handy fotografierte er das erste Kapitel durch und ließ es sich von Google übersetzen. Einige Dinge hatte er wohl doch richtig verstanden, aber auf keinen Fall die wichtigsten. Und jetzt ist er unsicher, ob er weiterlesen will, die nächsten 240 Seiten, oder ob er es lieber lässt. Aber meistens ist er sehr hartnäckig und er geht davon aus, dass er sich durch diese Seiten zwingen wird, aber ohne sie jedes mal zu übersetzen, weil das unnötig viel Zeit kostet.

Die schlechte Laune wirkte sich auch auf seinen Appetit aus. Er hatte gar keine Lust, etwas zu essen, vor allem aber nicht, etwas zu kochen. Aber man muss etwas essen, das ist ja sonst ungesund. Er hatte also den Herd angestellt, um sich Reis zu kochen und eine Gemüsepfanne zu machen. Der Reis kochte leider über und drückte auf seinem Touch-Herd eine Kombination, die dazu führte, dass dieser eine Kindersperre drin hatte. Das ist natürlich schön und gut zu wissen, falls man Kinder haben sollte. Das Problem war nun, dass er den Herd nicht mehr an bekam, weil er die Kombination für die Entsperrung nicht kannte. In einem Stapel Anleitungen suchte er nach der richtigen. Und letztlich ließ sich der Herd entsperren.

Für morgen hofft der Protagonist, dass er besser gelaunt sein wird. Bei der Arbeit hat er einiges zu tun, auf das er keine Lust hat. Für den Nachmittag nimmt er sich nichts vor, außer sein Legoset zu bauen.

100 Positive TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt