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Der Protagonist ist fertig mit den Nerven. Besonders gut hatte er nicht geschlafen, dann drehte ihm seine Mutter noch einen Hustensaft an, weil er nach Corona immer noch so hustet und sie der Meinung ist, dass er sich eine Lungenentzündung holt. Besonders viel Zeit war irgendwie auch nicht mehr, wobei natürlich erwähnt werden muss, dass der Protagonist noch etwas gestrickt hat, bevor er seinen Koffer zuende gepackt hat und er dann auch schon los musste.

Es war seltsam, von den Eltern los zu fahren, ohne dem Vater tschüss zu sagen. Aber geht heute nicht anders und im August würden sie sich wieder sehen, wenn seine Mutter Geburtstag hat. So lang ist das nicht mehr hin, etwas mehr als ein Monat. Vorher ist der Zug auch noch nicht wieder in Betrieb und nach der heutigen Tortur kann er sagen, dass er die Ersatzstrecke nie wieder fahren wird. Warum?

Im Sommer ist es ja sowieso unerträglich, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, weil die Leute aus Süddeutschland alle Urlaub haben und in seine Gegend fahren. Sie verstopfen alles. So auch heute, eine ganze Jugendgruppe hatte den halben Ersatzbus eingenommen, während sich der Busfahrer lauthals beschwerte, Klassen und Jugendgruppen müssten vorher angemeldet werden. Zum Glück ist der Protagonist bereits an der ersten Station eingestiegen, sonst wäre er nicht mehr rein gekommen, so voll war es.

Die Wartezeit auf den ersten Anschluss schien ewig. Außerdem war es so sinnlos, in diesen Zug zu steigen, der den Protagonisten aktiv für eine Stunde in die falsche Richtung fahren würde. Aber anders geht es nicht, sonst kommt er nicht nach Hause. Auch der Zug war wieder sehr voll und hatte letztlich Verspätung. Der Anschluss wartete und war ebenso voll. Er musste also für eine weitere Stunde stehen, die Klimaanlage funktioniert natürlich auch nicht. Zwischenzeitlich war die Luft so stickig, dass er das Gefühl hatte, einfach zu ersticken. Die Verspätung wurde immer schlimmer, sodass er seinen Anschluss sicherlich nicht schaffen könnte. Immerhin sollte der Zug ankommen, nachdem der Anschluss losfährt.

Nach einem Sprint, so schnell ist wahrscheinlich noch nie jemand gelaufen, hatte er seinen Anschluss doch noch geschafft. Er konnte seine Lunge spüren, das ging auch nach einer Stunde nicht weg. Es war wahrscheinlich nicht so intelligent, mit einer angeschlagenen Lunge so schnell zu laufen. Aber es war ihm in dem Moment wichtiger, den Zug zu bekommen. Und das Hoffen geht weiter, dass der nächste Anschluss erreichbar ist. Man könnte jetzt vielleicht denken, warum fährt der Protagonist nicht ICE? Es gibt keinen. Es gibt nur die Regionalbahn, schon immer. Und er muss 5 mal umsteigen, schon immer. Warum? Fragt die Deutsche Bahn.

Er hatte dann seinen Eltern geschrieben, dass er diese Strecke nie wieder fahren würde. Es ist psychisch nicht möglich, man wird verrückt. Im dritten Zug war er schon so kurz vor seinen Grenzen, weil es so laut war, so viele Menschen haben ihre Kinder nicht im Griff, so viele Erwachsene haben sich selbst nicht im Griff, so lange eng an eng zu stehen ist sowieso anstrengend, man bekommt kaum Luft, dazu noch die Panik, dass man seinen Anschluss nicht schafft. Das geht gar nicht. Außerdem ist er jetzt über 8 Stunden unterwegs, mit dem Auto benötigt man nicht Mal 3. Und so langsam klingt das Auto, das ihm seine Eltern geben wollen, wirklich nett.

Immerhin ist die Zeit zum Umsteigen am letzten Abschnitt größer. 15 Minuten hätte er theoretisch. Jetzt kommt er mit etwa 5 Minuten Verspätung, aber auch das ist noch machbar. Von dort muss er nur noch zwei Stationen fahren und dann halt nach Hause gehen. Nach dem ganzen Weg braucht er Urlaub. Das Wochenende war anstrengend. Aber das ist natürlich nicht möglich, morgen muss er wieder zur Arbeit. Danach einkaufen. Irgendwie ist das immer so anstrengend, nach ein paar Tagen Abwesenheit wieder einkaufen zu gehen. Dann ist der Tag halt schon ganz rum, danach gibt's noch Essen und das wars. Die Hoffnung bleibt, dass das Wetter gut ist, aber auch nicht zu gut.

Inzwischen kann der Protagonist auch bestätigen, dass er seinen letzten Zug erreicht hat. Schade ist, dass dieser immer noch ewig am Gleis steht, bevor es los geht. Sonst wäre er schon 20 Minuten früher Zuhause. Aber das liegt daran, dass jedes Mal irgendeiner anderen Bahn Vorrang gegeben werden muss. Man fragt sich, warum der Zugplan nicht einfach angepasst wird. Vor allem für Menschen, die tatsächlich noch einen weiteren Anschluss bekommen müssen, wäre es gut zu wissen, dass man etwas mehr Zeit mehr einplanen muss. Aber was will man von der Deutschen Bahn schon erwarten? Der Protagonist hat das Gefühl, dass er sich wiederholt. Aber auch die Ereignisse des Tages wiederholen sich die ganze Zeit.

In einen Zug einsteigen. Eine Stunde später aussteigen. Zum nächsten Zug rennen. Einsteigen. Aussteigen. Rennen. Einsteigen. Aussteigen. Und so geht das 5 mal.

Seine Eltern, bzw. vor allem sein Vater, hatten ihm bei WhatsApp geschrieben, dass es doch gar nicht so schlimm sein kann. Dass es doch sonst auch alternativen geben würde (...es gibt keine Alternative?). Der Protagonist wünscht sich, dass sein Vater diese Strecke einmal mit dem Zug fahren würde. Nur ein einziges Mal, damit er weiß, wie beschissen das ist. Danach können sie nochmal reden.

Zuhause muss er erstmal duschen, denn er hatte gespürt, wie ihm der Schweiß die Brust und den Rücken herunter gelaufen ist. Wie ekelhaft, dieses Gefühl. Dabei hasst er es, mehrmals am Tag zu duschen, weil seine Haut das nicht ab kann. Andererseits wäre es eine Zumutung, so ins Bett schlafen zu gehen.

Er hatte ja schon erwähnt, dass er morgen zur Arbeit und einkaufen muss. Er möchte sich auch gar nicht mehr vornehmen. Er weiß, dass er abends wahrscheinlich stricken wird, aber mehr auch nicht. Bloß nicht rausgehen. Bloß keine Anstrengung. Einfach nur Ruhe. Und er hofft wirklich, dass er einigermaßen schlafen kann. Die letzten nächte hatte er immer so schlecht geschlafen und meistens nur Schwachsinn geträumt. Es ist nicht auszuhalten. Jetzt ist er aber auch gerade besonders schlecht drauf. Zu wenig getrunken, führt bei dem Wetter zu Kopfschmerzen.

100 Positive TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt