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Der Protagonist hat seine Schrittzahl heute nicht erreicht. Theoretisch hat der Tag noch ein paar Stunden, aber er hat keine Lust mehr, das Haus zu verlassen. Das hatte er schon heute morgen nicht, aber dennoch war er bis zum nächsten Bäcker gelaufen, um sich ein Stück Schokosahnetorte zu holen. Quarkbällchen gabs dann auch noch, sahen die doch viel zu lecker aus und der Protagonist liebt, wie bereits bekannt, Süßigkeiten.

Aber fangen wir morgens an. Geweckt wurde er erneut von schreienden/weinenden Kindern. Kinder müssen ganz seltsame Wesen sein, immerhin wissen sie die Gemütlichkeit von Betten noch nicht zu schätzen. Wenn die wach sind, stehen sie einfach auf und weigern sich abends dann auch noch, schlafen zu gehen. Etwas von dieser Energie würde dem Protagonisten auch ganz gut tun.

Wahrscheinlich ist es sogar normal, dass Kinder ständig schreien, aber diese beiden Jungs sind geschätzt 9 und 12 Jahre alt. Der Protagonist kann jedoch nicht gut schätzen, vielleicht sind sie noch älter. Auf jeden Fall war er nicht besonders gut gelaunt, als er von dem Geschrei geweckt wurde, war er doch gestern so lange wach, um den ESC zu gucken. Dabei hatte er sich daran erinnert, warum er diese Sendung sonst nicht sieht. Etwas spannendes ist insgesamt sowieso nicht passiert. Dennoch hatte er das richtig ernst genommen und sich sogar für jedes Land eine Punktzahl notiert. Seine 12 Punkte gingen an die Schweiz, die letztlich auch gewonnen hat. Ansonsten lag er aber völlig daneben, hatte er doch Finnland, Norwegen und Irland direkt darauf folgen lassen. Am Ende war er der Meinung, dass die meisten Teilnehmer nicht dazu in der Lage waren, die Töne ihrer eigenen Lieder zu treffen. Darüber wundert er sich, denn man schreibt doch für sich selbst kein Lied, das man nicht singen kann. Vielleicht waren alle so aufgeregt gewesen, dass sie ihre Fähigkeiten verloren hatten. Immerhin muss man ihnen zugute halten, dass sie sich getraut haben, überhaupt zu singen. Der Protagonist kann selbst nicht besonders gut singen, also sollte er sich nicht zu laut beschweren.

Mit zu wenig Schlaf saß der Protagonist mittags auf seinem Balkon und hielt endlich mal das Buch in der Hand, das er seit zwei Jahren verzweifelt versucht, zuende zu bringen. Es fällt ihm manchmal schwer, sich in die Phantasie einer anderen Person hinein zu versetzen, hatte er doch selbst eine sehr lebendige Vorstellungskraft. Darüber hinaus war ihm die Hauptperson des Buches so unglaublich fern, wurde doch ständig der Zustand seines Geschlechtsteils beschreiben, obwohl dies für die Geschichte keine Bedeutung hatte. Der Protagonist versteht nicht, warum ständig alles sexualisiert werden muss. Jede Beschreibung stellte er sich detailliert vor, so also auch die vulgären Schilderungen, was sich für ihn manchmal anfühlte wie sexuelle Belästigung. Der Protagonist ist nicht prüde, hat aber mit sexuellen Dingen nicht so viel am Hut.

Als die Sonne vom Balkon verschwunden war und es kalt wurde, machte er sich daran, seinen Putzaufgaben nach zu kommen. Er versteht nicht, warum sich andere über das Putzen aufregten. Es bereitete ihm nicht viel Freude, aber es störte ihn auch nicht. Viel mehr freute er sich über das Endergebnis, wenn das Waschbecken wieder glänzt und alles frisch riecht. Bei einer Einzimmerwohnung gibt es allerdings auch nicht so viel zu putzen. Als Belohnung aß er zwischendurch immer mal wieder ein Quarkbällchen und so ging die ganze Arbeit viel schneller.

Weil die Sonne immer noch so schien und er das Gefühl hatte, drinnen zu sitzen wäre Verschwendung des Wetters, entschied er sich, mit dem Buch in der Hand runter zum Hafen zu gehen. Dort saß er dann für eine Stunde in der Sonne und laß einige weitere Seiten. Nun ist er endlich auf seite 200 angekommen und es fehlen nur noch 60. Der Protagonist ist motiviert, das Buch innerhalb der nächsten Woche endlich zu beenden. Immerhin hatte er jetzt ausreichend Zeit, hatte er gestern beim Fernsehen doch seine Decke fertig gestrickt. Die Decke besteht aus vielen kleinen bunten Vierecken und es gibt an jedem Viereck einen Faden, den er vernähen muss. Der Protagonist überlegt, sich die Arbeit zu sparen und auf der Innenseite einfach ein Stück Stoff einzunähen. Immerhin hätte er dann auch zwei verschiedene Seiten und könnte die Decke beliebig drehen.

Gegen Abend schrieb er dann noch ein weiteres Kapitel für seine Geschichte. Er hatte anfangs ein sehr genaues Bild davon gehabt, wie sie sich entwickeln sollte. Eine Art Romanze zwischen einer Studentin und einem Leuchtturmwärter, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Daraus ist jetzt schon viel mehr geworden, irgendwie hatte sich die Figur des Leuchtturmwärters verselbstständigt und die Geschichte einfach verändert. Es war nicht mehr der Protagonist, der die Geschichte schrieb, sie schrieb sich wie von selbst und er musste sich beeilen, schnell genug alles in Worten fest zu halten. Er will aber auch nicht zu viel verraten, falls jemand, der diese Worte liest, ebenfalls die Geschichte um den Leuchtturm verfolgt. Es gibt hier keine Spoiler.

Zum Abendessen gibt es schon wieder Focaccia mit Salat. Das wirkt extrem eintönig, aber das lag nicht daran, dass er so unfassbar gerne diese Dinge aß, was aber auch nicht gelogen wäre, sondern daran, dass der Protagonist einfach viel zu viel Gemüse gekauft hatte. Irgendwie hatte er gar nicht darüber nachgedacht, aber jetzt musste er das natürlich auch verbrauchen. Der Protagonist verschwendet wirklich selten Lebensmittel, wurde ihm als Kind doch beigebracht, dass man für jeden Bissen dankbar sein sollte. In manchen Momenten war es vielleicht sogar schon etwas krankhaft. Irgendwie musste er dann immer an seine Oma denken, die als Kind vor den Russen fliehen musste und danach jahrelang nichts hatte. Das hatte ihr Verhalten deutlich geprägt und er schien davon einiges übernommen zu haben, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab.

Für morgen nimmt sich der Protagonist vor, etwas anderes zu essen. Außerdem möchte er auch bei der Arbeit positiver denken. Eigentlich hat er keine Lust auf die Arbeit, aber man kommt nicht drum herum. Am Freitag würde sich ja vielleicht beim Vorstellungsgespräch schon eine andere Möglichkeit auftun.

Morgen berichtet der Protagonist davon, wie gut er seine 100 positive Tage Challenge auf die Arbeit ausweiten konnte.

100 Positive TageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt