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Gestern Abend gegen 20 Uhr war der Protagonist angerufen worden, von seiner Mutter. Sie teilte ihm mit, dass sein Vater im Krankenhaus lag, schon seit dem Morgen. Sie hätte ihn aber nicht bei der Arbeit stören wollen, deshalb ruft sie jetzt erst an.

Der Protagonist ärgerte sich. Wenn sie morgens direkt angerufen hätte, hätte er noch vor der Arbeit beim Chef angerufen und wäre direkt los gefahren. So spät würde jetzt aber kein Zug mehr fahren, zumindest würde er nicht mehr bis ans Ziel kommen. Immerhin hatte er schon gepackt und den Zug für den nächsten Tag bereits rausgesucht, weil er ja eh zur Familie wollte. Ihm war aber auch klar, dass er sich nicht in das ganze rein steigern sollte. Immerhin war bei den ersten Untersuchungen noch nichts heraus gekommen und das könnte alles bedeuten. Das könnte heißen, dass am nächsten Tag ganz schlimme Diagnosen herauskommen. Es könnte aber auch sein, dass nicht weiter schlimmes ist.

Trotzdem hatte er schlecht geschlafen. Nicht, weil er sich viele Gedanken gemacht hatte, sondern weil er wieder Müll geträumt hatte. Dieses Mal kann er sich an kein einziges Detail erinnern. Er wusste nur, dass er unausgeruht aufgewacht war, etwa 40 Minuten vor seinem Wecker, der heute früher klingelte als sonst, weil er den ersten Zug am morgen nehmen wollte. Er hätte noch locker weiter schlafen können, aber er wusste auch, dass er mit weiteren 40 Minuten nicht besser drauf sein würde. Oft bekam er von so kurzen Schlafphasen Kreislaufprobleme. Stattdessen war er aufgestanden und hatte sich fertig gemacht. Auf dem Handy sah er, dass sein Vater bereits Quizduell gespielt hatte. Wahrscheinlich hatte er im Krankenhaus im Zimmer mit zwei anderen nicht gut geschlafen und war deshalb schon so früh wach. Aber das würde auch heißen, dass es ihm besser gehen musste. Gestern hatte er so starken Schwindel, dass er nichts sehen konnte. Heute konnte er also zumindest die Fragen bei Quizduell lesen, denn er hatte auch noch richtig geantwortet.

Über die Zugfahrt gibt es gar nicht so viel zu erzählen, Zugfahren ist jedes Mal gleich blöd. Der erste Zug hatte bereits 10 Minuten Verspätung und es kamen nochmal 10 Minuten dazu, obwohl er nur zwei Stationen gefahren ist. Dadurch hätte er seinen Anschluss verpasst, aber zum Glück hatte sein Anschluss auch Verspätung. Und so ging es dann weiter, er hatte jeden Anschluss gerade so geschafft. Der letzte kam verspätet an und musste durch ein Kinderfest noch weiter warten. Die Kinder liefen mit Blumen geschmückten Bögen durch die Straßen.

Der Protagonist erinnert sich daran, wie er als Kind selbst mit so einem Bogen durch die Gegend rennen musste. Beim Kinderfest. Er hatte das gehasst, denn seine Grundschullehrerin bestand immer darauf, dass Paare von unterschiedlichen Geschlechtern unter jeweils einem Bogen liefen. Er hatte nur keine Freunde des anderen Geschlechts und gar kein Interesse, mit jemandem zu laufen, den er nicht gerne mochte. Glücklicherweise konnte er von den vier Jahren, in denen das passiert ist, drei Mal trotzdem mit einem seiner besten Freunde laufen, weil es nicht gleich viele Jungs und Mädchen in der Klasse gab.

Als Kind merkt man gar nicht, wie sehr man den Verkehr mit sowas aufhält. Aber man hat auch keine Wahl, schließlich schreibt die Schule das vor. Und es führte heute nur zu 20 Minuten Verspätung, was noch zu verkraften ist, wenn man keinen weiteren Anschluss braucht.

Zuhause angekommen wurde ihm gesagt, dass sein Vater nicht will, dass er ihn besucht. Das bezog sich aber auf alle Kinder. Das Krankenhauszimmer sei zu klein, da würden nicht alle rein passen. Klingt plausibel, immerhin ist das Zimmer mit den drei Betten schon voll. Deshalb war nur seine Mutter los gefahren, das Krankenhaus ist in der nächsten großen Stadt. Sein Vater hatte einige Dinge von ihr bestellt, unter anderem eine Zeitung und ein paar Sachen aus der Drogerie. Also heißt das, dass er zumindest schon wieder lesen kann. Auch wenn ihm sein Vater ihm geschrieben hatte, dass er wohl das Wochenende noch im Krankenhaus bleiben muss, ist der Protagonist zuversichtlich, dass es besser wird. Das lässt sich so natürlich noch nicht sagen, ohne Ergebnisse vom CT und MRT. Es bringt aber auch nichts, sich in die ganze hinein zu steigern.

Gerade ist seine Schwester noch beim Arzt, aber sollte bald nach Hause kommen. Bis dahin wartet er mit dem Abendessen. Es wäre auch komisch, wenn jetzt alle alleine essen würden. Am liebsten würde er einfach auf alle warten. Aber er weiß auch nicht, wann seine Mutter wieder kommt. Schwierig, aber solange alle was im Bauch haben, bevor sie schlafen gehen, ist alles gut. Sein Vater bekommt von seiner Mutter einen Nudelsalat mit Frikadellen ins Krankenhaus, immerhin er wird heute gut essen. Und das ist das wichtigste.

Wirklich sinnvoll hatte der Protagonist seinen Koffer nicht gepackt, da war nichts drin außer sein Buch, die Socken für seine Schwester und eine Tüte norwegische Schokoladen-Chips. Ansonsten war sein Koffer leer gewesen. Und jetzt weiß er nicht richtig, was er die restlichen Tage tun soll. Vielleicht darf er seinen Vater noch besuchen. Das wäre ja sonst dämlich, wenn er jetzt extra da ist und aber nicht zu Besuch darf.

Trotzdem will er jetzt versuchen, sich einen Plan zu machen, was die nächsten Tage passieren soll. Er nimmt sich vor, in seinem Buch auf jeden Fall 50 Seiten zu lesen. Das erste Kapitel hat er schon geschafft und er freut sich, dass er dieses Mal deutlich mehr versteht als bei dem letzten finnischen Buch. Es liegt vielleicht auch daran, dass das letzte Buch von 1971 war und das neue nun von 2017. Er möchte außerdem mit seiner Schwester Karten spielen. Morgen kommt noch Fussball, das wird er gucken, auch wenn er sonst nie Fussball guckt.

Toll ist, dass seine Zugverbindung ab Sonntag nicht mehr existiert und er einen unnötig großen Umweg fahren muss. Wahrscheinlich über Hamburg. Dadurch wird der Weg nicht 6-7 Stunden, sondern 8-9 Stunden dauern. Mit dem Auto braucht man 2,5 Stunden. Aber er hat kein Auto. Er will auch kein Auto. Also Pech.

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