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Und wieder ein Tag, an dem der Protagonist Kopfschmerzen hat. Er schiebt das auf das Wetter, das zwischen 30 Grad und Sonne und Starkregen in Minutentakt wechselt. Heute war er überraschenderweise erst 20 Minuten vor seinem Wecker aufgewacht und war davon dann schon fast gestresst. 

Heute ist schon Tag 72, es bleibt also etwa ein Monat, bis dieses Experiment vorbei ist. Es fühlt sich gerade nicht so an, als ob er schon zum 72. Mal 1000 Wörter in sein "Tagebuch" schreibt. Am Ende des Ganzen würde er insgesamt 100.000 Wörter geschrieben haben, kann man sich das vorstellen? Irgendwo gibt es eine Grenze, da werden Zahlen so groß, dass man es sich nicht mehr vorstellen kann. Aber wo die Grenze ist, ist wahrscheinlich bei jedem anders. Der Protagonist rechnet sowas immer in Menschen. Wenn jeder Mensch in seiner Stadt ein Wort schreiben würde, wären wir nicht mal bei 100.000 Wörtern. Also ist das richtig viel. Und vor allem wirklich mehr, als er in der Lage ist, sich vorzustellen.

Wie immer pünktlich hatte er heute bei der Arbeit zum Glück viel Zeit alleine, sodass er seine Aufgaben alle erledigen konnte. Zwischendurch war sogar Zeit, um Sudoku zu spielen, denn sein Chef musste für einen Termin weg und der Protagonist hatte nichts zu tun. Als sein Chef wieder da war, wurde er dezent dazu gedrängt, heute wieder länger zu bleiben, obwohl nichts sinnvolles zu tun war. Der Protagonist sollte jemanden anrufen, dessen Telefon gerade belegt war. Deshalb wartete er einige Zeit, versuchte es noch ein paar mal, aber das Telefon war immer noch belegt und man fragt sich dann irgendwann, wie lang man bleiben sollte, nur um eventuell mit jemandem telefonieren zu können. Also ging er dann doch nachhause, er hatte zu dem Zeitpunkt schon starke Kopfschmerzen und wäre eh nicht in der Lage gewesen, etwas vernünftig zu bearbeiten.

Natürlich regnete es, als er auf dem Weg nachhause war. Er war so kaputt von den letzten Tagen, dass er einfach froh war, ab morgen wieder Wochenende zu haben. Selbst wenn es nicht geregnet hätte, hätte er sich beeilt, um nachhause zu kommen, einfach um den Kopf abzustellen. Weil es bei der Arbeit schon etwas zu Essen gab, sein Chef hatte ihm mal wieder ungefragt etwas mitgebracht, eine Bockwurst mit Brot, hatte er dann zuhause nichts mehr gegessen. Ja, eine Bockwurst. Dabei ist der Protagonist Vegetarier. Und das weiß sein Chef eigentlich, aber er hatte es offensichtlich vergessen. Und damit die Wurst nicht in den Müll musste, hatte er diese trotzdem gegessen. Aber nicht, ohne vorher die Haut abzupellen. Schon als Kind, wenn er bei seinem Opa Bockwurst bekommen hatte, pellte er die Haut immer ab. Das führte zu Diskussionen mit seiner Mutter, die meinte, er sollte sich nicht so anstellen. Aber wer isst bitte freiwillig so eine feste, harte, unkaubare Haut?  Davon abgesehen hatte sein Opa die Wurst auch immer gepellt und niemand beschwerte sich darüber.

Wegen der Kopfschmerzen legte sich der Protagonist kurz hin. Aber wirklich nur kurz, weil er das Gefühl hat, das würde den Schlaf am Abend nur noch verschlechtern. Der ist schon schlecht genug, man muss es nicht herausfordern. Nach etwa 5 Minuten, die seinem Kopf schon gut getan hatten, setzte er sich auf seinen Sessel und las das nächste Kapitel in dem Buch, das er gestern angefangen hatte. So wie er das jetzt versteht, ging es darin um eine Nebenfigur, eine Art Nebengeschichte von einem Mann, der mit dem Flugzeug flog und seine Wohnung verlassen musste. Es wirkte so, als wäre er zu einem Auszug gezwungen worden. Der Protagonist hat keine Ahnung, auf welche Art und Weise dieses Kapitel mit dem zusammenhängt, was er gestern bereits gelesen hatte. Vielleicht hatte er die Verbindung zwischen den Geschichten verpasst und nicht verstanden, aber vielleicht wurde sie bisher auch einfach noch nicht aufgeklärt. Mehr als ein Kapitel wollte er dann auch nicht lesen, weil es ganz grauenhaft sein kann, wenn man das Gefühl hat, man versteht nichts.

Den ganzen Tag ist er auch schon nervös, dass er vielleicht angerufen wird. Wenn er die Stelle, für die das Gespräch gestern war, bekommen würde, würde man ihn kurzfristig anrufen. Was heißt kurzfristig? Innerhalb der folgenden Tage, so hatte er das gedeutet. Er weiß nicht, ob heute vielleicht noch weitere Gespräche waren. Wenn nicht, dann wäre bestimmt bereits eine Wahl getroffen sein. Er geht davon aus, dass er entweder bis Freitag angerufen wird, oder eben den Job nicht bekommt. Aber es wäre schön, wenn man für diesen einen Moment in die Zukunft schauen könnte, damit man nicht ständig aufs Handy schauen muss, welches lautlos ist. Er würde den Anruf bestimmt verpassen. Vor allem werden sie ihn bestimmt auch nicht anrufen, sondern einen anderen Bewerber wählen. Aber das weiß man ja nicht.

Der Regen hatte etwas aufgehört, also ging er kurz raus. Eine gewohnte Runde, einmal durch die Innenstadt, die leider voller Touristen ist. Man würde es bis September wahrscheinlich nicht wirklich aushalten können, sich in der Stadt auf zu halten. Das hatte er ganz vergessen. Und natürlich begann es dann, als er gerade an der Stelle war, die am weitesten von seiner Wohnung weg ist, zu schütten. Mit durchnässter Kleidung kam er zuhause an, unterwegs hatte er sich nichts gekauft, nichts hatte ihn angelächelt. Dabei fand er, dass er sich diese Woche ruhig belohnen dürfte. Er weiß nicht, womit, aber mit irgendwas.

Zum Abendbrot gabs eine Kopfschmerztablette, Focaccia und Grillkäse. Und ein Schokosofteis. Gleich muss er noch abspülen, aber dann wird er sein Legoset aufbauen, Just Dance spielen und Abends bestenfalls schnell einschlafen. Morgen nach dem Ausschlafen (hoffentlich) und einem Frühstück gehts dann noch zu Rewe einkaufen. Hoffentlich haben seine Nachbarn bis dahin ihre Fahrräder umgestellt, denn diese stehen im Moment so, dass er an sein eigenes nicht ran kommt. Ohne Fahrrad ist der Einkauf bei Rewe jedoch fast unmöglich, weil er doch relativ weit fahren muss und relativ viel kaufen wird, was man so nicht tragen kann. Ansonsten will er sich nochmal nach weiteren Stellen umsehen, aber nach Möglichkeit einfach mal die freie Zeit genießen.

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