„Also dann Jungs, wir sehen uns morgen. Viel Spaß beim Training später," verabschiede ich mich von den wenigen, die noch nicht unterwegs sind. Ich versuche, meine Stimme fest klingen zu lassen, doch innerlich bin ich ein einziges Chaos.Schwer atmend steige ich in mein Auto ein und lasse meinen Kopf für einen Moment gegen die Kopfstütze fallen. Meine Hände zittern, als ich sie um das Lenkrad schließe. Ich weiß genau, was ich jetzt zu tun habe, aber die Angst schnürt mir die Kehle zu. In den letzten vier Jahren gab es nur Jonas und mich. Er war mein Zuhause, mein sicherer Hafen. Und jetzt? Jetzt stehe ich vor einem Scherbenhaufen und habe keine Ahnung, wohin ich gehen soll.
Seit einem halben Jahr leben wir hier in Dortmund. Wegen ihm. Ich habe alles zurückgelassen – meine Freunde, meine Familie, meine Heimat – nur um mit ihm zusammen zu sein. Und jetzt? Jetzt habe ich nichts. Keine Freunde, keine Familie in der Nähe, keinen Ort, an den ich gehen kann. Wo soll ich hin?
Ich starte den Motor meines Audis, doch meine Finger klammern sich so fest um das Lenkrad, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Zweimal fahre ich an unserem Haus vorbei, unfähig, einfach anzuhalten. Erst beim dritten Versuch zwinge ich mich, auf die Auffahrt zu lenken und den Wagen schief zu parken. Mein Herz hämmert so laut, dass es in meinen Ohren dröhnt.
Ich kann das nicht.
Aber ich muss.
Mit zittrigen Fingern stecke ich den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn langsam um. Das Klicken der Tür klingt in meinen Ohren viel zu laut. Ich trete über die Schwelle und der vertraute Geruch unseres Hauses schlägt mir entgegen – sein Parfüm, das Waschmittel, das wir immer benutzen, ein Hauch von Kaffee. Es fühlt sich noch immer nach Zuhause an. Doch es ist nicht mehr mein Zuhause.
Jede Bewegung kostet mich Überwindung. Schritt für Schritt gehe ich ins Schlafzimmer, als würde mich jede Erinnerung daran zurückhalten. Mein Blick fällt auf unser Bett – die zerwühlte Decke, sein Kopfkissen, das leicht eingedrückt ist. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Hat er sie hier reingelassen? Hat er mit ihr in unserem Bett gelegen?
Hör auf, Olivia. Hör auf, darüber nachzudenken.
Ich presse die Lippen zusammen und reiße die Reisetasche aus der hinteren Ecke des Kleiderschranks. Ohne darauf zu achten, was ich greife, stopfe ich Kleidungsstücke hinein. Jeans, Pullover, Unterwäsche – es ist mir egal, ob ich alles habe. Ich will nur weg.
Die Tasche ist schwer, als ich sie die Treppe hinunterschleppe. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde er mich erdrücken. Im Wohnzimmer halte ich kurz inne, öffne die Schublade und greife nach meinem Ersparten. Es ist nicht viel, aber es reicht für ein Hotel. Hoffentlich.
Dann höre ich es.
Die Haustür öffnet sich – und fällt mit einem lauten Knall wieder ins Schloss.
Mir wird schlagartig schlecht. Mein Herz rast so schnell, dass mir schwindelig wird. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, meine Finger krallen sich in den Tragegriff der Tasche. Nein. Nicht jetzt. Nicht so.
„Hey, Baby." Seine Stimme klingt sanft, so vertraut, so falsch. Ich sehe, wie er mir einen Kuss geben will, doch mein Körper reagiert instinktiv. Ich weiche zurück, stolpere fast über die Schuhe im Flur.
Er runzelt die Stirn. „Alles gut?"
Ich kann nichts sagen.
„Baby, was ist los?" Seine Stimme ist jetzt voller Sorge.
Seine Worte hallen in meinem Kopf wider, während ich auf die Reisetasche neben mir starre. Er tut so, als wäre alles normal. Als wäre nichts passiert.
Dann spüre ich seine Hand an meiner Wange. Warm. Zärtlich. Eine Berührung, die mich sonst immer beruhigt hat.
Aber jetzt nicht. Jetzt fühlt es sich wie Gift an.
Ich will mich bewegen, aber meine Füße sind wie festgeklebt. Mein Körper zittert. Meine Kehle ist trocken.
Er kommt näher, seine Arme wollen mich umschließen, mich festhalten – doch in dem Moment finde ich meine Kraft zurück. Ich stoppe seine Bewegung, greife sein Handgelenk und löse mich von ihm.
Sein Blick ist verwirrt, fast panisch. „Olivia, was ist los?"
Ich antworte nicht. Stattdessen nehme ich den Verlobungsring von meinem Finger, halte ihn für einen Moment in meiner Hand. Er fühlt sich plötzlich so schwer an. So bedeutungslos. Dann lege ich ihn in seine Handfläche.
Sein Gesicht wird blass. „Was? Was soll ich damit? Das ist deiner. Baby, rede mit mir!"
Seine Panik wächst, doch gerade er müsste doch wissen, warum ich das tue.
Mir laufen die Tränen in Strömen über das Gesicht. Meine Schultern beben. Doch ich zwinge mich zu sprechen. „Deinem blonden Nachtbesuch steht der mit Sicherheit besser." Meine Stimme klingt gebrochen, fast fremd.
Ich greife nach der Tasche, doch kaum habe ich sie geschultert, höre ich, wie er mir nachläuft. „Olivia, warte. Du verstehst das falsch!"
Ich bleibe stehen, warte, ob er sich irgendwie herausreden kann.
„Ja, ich hatte heute Nacht Besuch. Aber das war meine Cousine! Ich habe dir doch erzählt, dass sie in der Nähe von Dortmund wohnt. Sie kam gestern Abend vorbei, wir haben ein bisschen geredet, das ist alles."
„Cousine?"
„Ja, genau. Ich würde dir doch nie so etwas antun!" Er klingt ehrlich. Verzweifelt. Er kommt näher, nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Komm wieder mit rein." Seine Stimme ist sanft, fast flehend.
Ich schließe kurz die Augen. Will ihm glauben. Will, dass all das nur ein Missverständnis ist.
Doch dann erinnere ich mich.
Das Bild brennt sich in meinen Kopf: Sein Oberkörper nackt, sie direkt vor ihm. Ihr Lächeln. Ihr Kuss.
Ich öffne meine Augen wieder und flüstere: „Ich wusste gar nicht, dass man seine Cousine küsst. Und das bei sieben Grad draußen. Oberkörperfrei."
Er erstarrt. Keine Ausrede. Keine Erklärung. Nichts.
Stille.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. „Meine Sachen hole ich nächsten Monat."
Dann drehe ich mich um, löse mich von ihm. Ich steige in mein Auto, starte den Motor. Er steht immer noch dort, regungslos. Er sagt nichts mehr. Auch nicht, als ich die Einfahrt verlasse.
Ich fahre durch die Straßen Dortmunds, ziellos, mit verschwommenem Blick. Letztendlich steuere ich das nächstbeste Hotel an. Mein vorübergehendes Zuhause.
Kaum angekommen, lasse ich mich auf das viel zu harte Bett fallen. Dann kommen die Tränen wieder.
Ich bin wegen ihm hier. Ich habe alles für ihn aufgegeben. Meine Heimat, meine Familie, meine Freunde. Und jetzt? Jetzt stehe ich mit nichts da.
Ich wollte ihn heiraten. Eine Familie mit ihm gründen. Mein Leben mit ihm verbringen.
Und er hat es einfach weggeworfen.
Für einen Moment will ich schreien. Will mir alles aus der Seele brüllen. Aber was würde es ändern?
Erschöpft weine ich mich in den Schlaf.
Und als ich die Augen schließe, bleibt nur eine Frage in meinem Kopf: Wie konnte ich so blind sein?

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When we meet again
Hayran KurguOlivia hat in ihrem Leben mehr Kämpfe ausgefochten, als sie zählen kann. Aufgewachsen, immer mit dem Gefühl, funktionieren zu müssen, statt wirklich zu leben. Julian, den sie wegstößt, weil sie glaubt, nicht gut genug zu sein. Julian, mit dem sie v...