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Die Vorbereitung auf das Spiel läuft wie in Trance ab. Ich beobachte, wie die Jungs sich aufwärmen, nervös, aufgeregt, bereit für das Halbfinale im DFB-Pokal. Sie alle sind voller Spannung. Das Stadion ist laut, voller Gesänge und klopfender Füße. Die Fans jubeln, und die Atmosphäre dröhnt durch den Raum wie ein lebendiger Herzschlag. Auswärts in Wolfsburg.

Doch heute ist alles anders. Meine Gedanken hängen an anderen Dingen – daran, dass ich in meiner Heimatstadt bin und trotzdem so weit weg von meinem eigentlichen Leben. Ein scharfer Schmerz durchzieht mich, als mir klar wird, dass ich nicht in der Lage bin, meine Mutter zu besuchen, dass ich sie nicht umarmen, ihr nicht einmal kurz erzählen kann, wie es mir geht. Der Gedanke daran sitzt tief, wie ein Knoten, der sich mit jeder Minute enger zieht.

Als das Spiel beginnt, versuche ich mich zusammenzureißen. Die Jungs sind fokussiert, die Blicke auf das Spielfeld gerichtet, während der Schiedsrichter das Spiel anpfeift. Von Anfang an ist es ein intensiver Kampf. Wolfsburg spielt stark, und unsere Mannschaft kämpft um jeden Ball, jede Sekunde zählt. Ich spüre die Anspannung um mich herum und versuche, die vertraute Professionalität in mir zu finden. Aber selbst das gelingt mir kaum – zu sehr kreisen meine Gedanken um das, was ich nicht haben kann, um das, was ich vermisse.

Dann fällt das erste Tor – und es ist für Wolfsburg. Der Jubel der Heimfans hallt durch das Stadion und ein Teil von mir fühlt sich seltsam zerrissen, wie ein leises Echo meiner eigenen inneren Zerrissenheit. Die Jungs auf dem Feld sind sofort wieder bei der Sache, sie setzen alles daran, den Ausgleich zu schaffen. Und tatsächlich – noch vor der Halbzeitpause fällt das Tor für uns. Ich spüre die Erleichterung und die Euphorie der Mannschaft, die mich für einen kurzen Moment aus meiner eigenen Welt reißt, und ich jubel mit ihnen, um zumindest für einen Augenblick die Kontrolle wiederzufinden.

Die zweite Halbzeit wird zum Kampf. Jeder einzelne Spieler gibt alles, und die Minuten ziehen sich wie Kaugummi. Dann, kurz vor Schluss, schaffen wir es – ein zweites Tor. Die Bank springt auf, die Spieler umarmen sich, und ich lächle, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich das Lächeln nur aufsetze. Marco hatte den Ball gerade eben im Tor versenkt. Abpfiff. Es ist vorbei. Wir haben gewonnen, 2:1. Ein Hauch von Glück und Erleichterung.

Doch kaum ist der Schlusspfiff ertönt, spüre ich wieder die Last meiner eigenen Gedanken. Die Freude, die ich normalerweise in solchen Momenten empfinde, bleibt aus. Stattdessen fühle ich mich leer, erschöpft und innerlich zerrissen. Es ist, als ob der Sieg nichts in mir berührt, als ob ich nur eine Zuschauerin bin, gefangen hinter einer unsichtbaren Wand. Der Rest des Abends zieht an mir vorbei wie in Zeitlupe, und ich versuche krampfhaft, meine Fassade aufrechtzuerhalten.

Als wir später ins Hotel zurückkehren, will ich nur noch in mein Zimmer und endlich allein sein. Doch als ich gerade die Tür schließen will, höre ich ein Klopfen. Noch bevor ich aufsehen kann, erkenne ich die Stimme. Julian. Natürlich Julian. Der einzige, der in der Lage ist, durch meine Maske hindurchzusehen.

Langsam öffne ich die Tür und blicke ihm entgegen, halte mich zurück, versuche, die Distanz aufrechtzuerhalten. Doch Julian tritt einfach ein und schließt die Tür hinter sich. Er sieht mich an, ruhig und durchdringend, und es dauert nicht lange, bis er das Schweigen bricht.

„Livi," beginnt er sanft. „Ich glaube dir nicht."

Ich spüre, wie sich mein Herz zusammenzieht. „Was soll das heißen?" versuche ich, kühl zu klingen. „Ich habe gesagt, dass alles gut ist."

Schon den ganzen Tag bekomme ich die Frage „ist alles gut bei dir?" Oder „was ist los?". Und immer war meine Antwort die selbe „Es ist alles gut" mit einen künstlichen Lächeln.

Er legt den Kopf leicht schief und sieht mich an, als würde er genau wissen, dass ich lüge. „Jedes Mal sagst du, dass alles gut ist. Aber ich kenne dich. Das hier, dieses Lächeln, das bist du nicht."

Ich spüre, wie ein leises Zittern in mir aufsteigt, versuche, es wegzublinzeln. „Du kennst mich nicht mehr, Julian," murmle ich und merke, dass meine Stimme zittert. „Ich bin... anders."

„Aber warum? Was ist passiert?" Er tritt einen Schritt näher, und seine Augen suchen meinen Blick, bis ich ihm nicht mehr ausweichen kann. „Ich bin hier. Lass mich dir helfen."

Ich senke den Kopf, und für einen Moment kämpfe ich mit allem, was ich in mir trage. Es wäre so leicht, ihm einfach alles zu sagen, ihm all das zu erzählen, was mich so lange schon quält. Ein kleiner Teil, ein kleinen Teil von all dem, was mich belastet. Mehr nicht. „Es ist... es ist alles einfach zu viel geworden. Jonas... ich wusste, dass es irgendwann vorbei sein würde. Ich habe es gespürt, und trotzdem habe ich an ihm festgehalten. Ich hatte Angst, allein zu sein."

Er sieht mich an, als würde er verstehen, ohne ein Wort sagen zu müssen. „Und es hat dir das Herz gebrochen."

Ich nicke und schlucke schwer. „Ja. Das hat es."

Er wartet geduldig, sagt nichts, während ich tief durchatme und den Mut aufbringe, von dem zu sprechen, was ich sonst vor allen verberge. „Mein Vater... er ist gestorben. Meinetwegen. Es war so schwer. Und jetzt bin ich hier, in Wolfsburg, und kann nicht einmal meine Mutter sehen. Ich... ich fühle mich gefangen, Juli."

„Deinetwegen?" fragend schaut er mich an. Also erzähle ich ihm, dass er gestorben ist, als er meine Torte abholen wollte. Es ist unglaublich schwer, das auszusprechen. Meine Stimme Zittert. Bricht mittendrin immer wieder ab.

Seine Hand legt sich sanft auf meine Schulter. „Livi, das tut mir so leid. Aber ich spüre, dass da noch mehr ist. Ich weiß, dass du dich selbst versteckst."

Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. „Julian... ich kann nicht... nicht alles. Das würde nur alles komplizierter machen." Die Worte fallen mir schwer, und ich spüre, wie ein Teil von mir den Wunsch hat, ihm einfach alles zu sagen. Doch ich kann es nicht. Noch nicht.

„Rede mit mir. Ich bin's Juli. Nicht irgendwer" meint er und zieht mich in seine Arme.

„Ich kann es nicht. Versteh es bitte" meine ich nur und löse mich von ihm. Er nickt, „aber ich bin da, wenn du reden willst. Ich warte von mir aus noch Jahre, bis du bereit bist, es mir zu erzählen. Ich werde dich nicht drängen. Ich bin immer da Livi.".

When we meet againWhere stories live. Discover now