Tja, was soll ich sagen. Wir haben heute Nacht nur sehr wenig Schlaf bekommen. Wohl eher ich. Nachdem ich meinen erneuten Gefühlsausbruch hatte, nahm Julian mich zwar in den Arm, doch erzählt habe ich ihm trotzdem nichts. Irgendwann sah ich dann auch ein, dass ich mein Handy ohnehin nicht bekommen könnte. Deshalb tat ich danach auch eine gute halbe Stunde so, als würde ich schlafen. Ich mein, Julian währe niemals einfach schlafen gegangen, wenn ich noch so aufgewühlt gewesen wäre. Dazu kenne ich ihn einfach zu gut. Obwohl, eigentlich ja auch nicht.
Kennt man einen Menschen denn überhaupt noch, wenn man 8 Jahre keinen Kontakt hatte? Eigentlich nicht, das ist ja quasi wie ein verlassenes Haus. Man kennt die Struktur vom Haus, aber die Räume dort drin sind anders. Sie sind voll mit Staub und Schatten. Man hat nur die Erinnerung, wie sie mal waren. Doch wie sie jetzt sind, ist nicht mehr gleich. Sie haben sich verändert.
Genau so ist es auch bei Julian und mir. Wir haben uns verändert. Wir erkennen uns, weil wir, wie das verlassene Haus, noch die selbe Struktur haben. Aber innerlich, unser Charakter, der hat sich verändert. Mit der Zeit, haben wir beide Dinge erlebt, Personen kennengelernt oder Sachen durchgestanden, die unsere Persönlichkeit geformt haben.
Also um nochmal auf die Frage zurück zu kommen. Nein, nein. Nach acht Jahren, da kennt man eine Person einfach nicht mehr. Viel zu viel Zeit liegt dazwischen, in der alles passiert sein kann. In der unsere Persönlichkeiten eine 360 Grad Wendung hingelegt haben können.
Nächster Punkt.
Vertrauen.
Kann ich jemanden vertrauen, den ich nicht wirklich kenne?Gute Frage Olivia, wirklich gute Frage.
Vertrauen. Eine Entscheidung und ein Prozess, der nicht mal eben auf einen Schlag entsteht.
Wichtig: Grenzen setzten. Wohlfühlen. Wenn ich mich bei jemanden Wohlfühle, dann kann ich ihm doch vertrauen. Aber gibt's eigentlich verschiedene Arten von Vertrauen?Ich mein, da gibt's so banales Vertrauen eben, wie, wenn man darauf vertraut, dass der Partner heute kocht. Oder einfach das Vertrauen in mein Auto, dass es mich nicht im Sticht lässt.
Dann gibt es da noch das normale Vertrauen. Eben, wenn man in der Schule einen Vortrag hält, als Gruppe, und darauf vertraut, dass jeder seinen Teil dazu beiträgt.
Und dann, ja, dann gibt es das blinde Vertrauen. Wohl das schwierigste. Das, welches ich einfach nicht habe. Wo man die tiefsten Gefühle preisgibt. Wo man jemanden Vertraut, blind Vertraut. Ihm quasi die nackte Wahrheit über einen selbst präsentiert, ohne zu wissen, ob man Enttäuscht wird.Ich glaube ich kann Julian nur banales Vertrauen entgegenbringen. Ich kenn ihn nicht. Er kennt mich nicht. Wir sind bloß zwei alte Bekannte, die sich getroffen haben. Mehr nicht.
Wohlfühlen. Das habe ich ja bereits einmal kurz erwähnt.
Fühle ich mich wohl?
Definitiv Nein.
Wieso nicht?
Weil ich ich bin.Tolle Antwort Olivia. Du fühlst dich nicht wohl, weil du du bist. Aber, bist das auch wirklich du?
Nein. Nein. Nein.Nein? Wie bist du dann? Bist du du selbst?
Bin ich ich selbst? Nein, oder vielleicht ... ich weiß es nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich jemals ich selbst war, oder ob ich einfach nur die Lücken fülle, die sich aufgetan haben, immer und immer wieder.
Es fühlt sich an, als hätte ich all die Jahre einfach Rollen gespielt – in einer Welt, die zu laut ist, zu schnell, zu voll. Inmitten von Menschenmengen verberge ich mich hinter einem Lächeln, das kaum meine Unsicherheit überdeckt, und bei neuen Begegnungen fällt es mir schwer, etwas anderes zu spüren als den Drang, wegzulaufen. Wenn ich unter Menschen bin, ist es, als würde ich mich selbst beobachten, von außen, als würde ich sehen, wie ich versuche, das Bild zu wahren. Wie viel von mir ist echt? Keine Ahnung.
Und dann sind da diese Selbstzweifel, die immer da waren – wie ein leiser Regen, der nie aufhört, die Fragen, die immer kommen: Bin ich genug? Sehe ich richtig aus? Wo stehe ich überhaupt? Mein Körper, mein Gesicht, all das ... passt irgendwie nicht zu mir. Ich habe diese Distanz zu mir selbst, als wäre ich ein Schatten, der sich in meinen eigenen Umrissen versteckt.
Im Job? Da gebe ich mir Mühe, hart zu wirken, professionell, nicht nahbar. Streng sein – das sollte ich als Betreuerin doch können, oder? Die Jugendlichen sollen Respekt spüren, sie sollen nicht merken, wie zögerlich und unsicher ich oft bin. Also baue ich Mauern, die sie nicht durchbrechen sollen, Mauern, die ich selbst kaum erklimmen kann.
Vielleicht bin ich nur das Produkt meiner eigenen Gedanken, die nie aufhören, die mich hinterfragen, die alles durchkauen, analysieren, ohne je eine Antwort zu finden. Wenn ich mich selbst sehen könnte, wer würde mich überhaupt erkennen? Vielleicht weiß ich das selbst nicht mal mehr.
Bin ich ich selbst? Nein. Ich bin jemand, der diese Frage längst aufgegeben hat, jemand, der aus Erinnerungen und Zweifeln besteht – eine leere Hülle, die ich tagtäglich fülle, um zu funktionieren, weil nicht zu funktionieren keine Option ist.
Seit drei Jahren habe ich das Gefühl, als würde ich eine weitere Rolle spielen. Seit der Nacht, in der mein Vater starb – an meinem Geburtstag. Es war mein Geburtstag, ich wollte doch nur, dass er die Torte abholt, weil ich dachte, es würde schön sein, sie von ihm überreicht zu bekommen. Und dann passierte es: der Unfall, sein Auto, meine Schuld.
Seine Nummer wählen.... es fühlt sich immer noch an, als könnte ich ihn erreichen, wenn ich nur seine Nummer wähle. Ich habe seine Nummer nie gelöscht, nicht ein einziges Mal. Ich wähle sie, und jedes Mal warte ich, dass er rangeht, dass ich seine Stimme höre, dass er mich fragt, warum ich so verrückt bin, dass ich mir selbst die Schuld gebe. Er mich fragt, wie mein Tag war, mich aufbaut. Oder mir einfach nur ein Hallo entgegen bringt. Irgendwas. Doch ich warte, und es kommt nichts. Nichts, außer der leeren Stille nach dem Piepton.
Und dann war da noch er. Mein Verlobter, der Mann, mit dem ich die Zukunft wollte. Vier Jahre. Vier Jahre, in denen ich es nie gewagt habe, die Wahrheit zu fragen, die unter der Oberfläche lag – weil die Angst, ihn zu verlieren, größer war als meine Zweifel. Eine leise Stimme sagte mir immer, dass etwas nicht stimmte, dass seine Blicke anders wurden, dass seine Worte nicht echt klangen. Aber ich wollte nicht, konnte nicht hinschauen, bis ich einmal stark genug war, um zu gehen. Das war mein starker Moment, einer. Und doch kam die Angst mit mir, auch ohne ihn.
Diese Angst, die wie ein unsichtbarer Schatten neben mir hergeht, die ich mit mir trage, wohin ich auch gehe. Die Angst, zu lieben und wieder verletzt zu werden, Angst, jemanden zu brauchen, nur um erneut allein zurückzubleiben. Sie lässt mich alles hinterfragen: ob ich jemals jemandem vertrauen kann, ob ich je loslassen kann, ob ich jemals wirklich ich sein kann. Die Angst zu scheitern, die Angst nicht zu genügen, die Angst, dass mein Gesicht, das ich vor der Welt trage, bricht und mich nackt zurücklässt.
Denn was ich zeige, ist nur eine Maske, eine glatte Oberfläche, hinter der ich alles verbirg, was mich verletzlich macht. Ein Gesicht, das nie jemanden in seine tiefsten Winkel blicken lässt, das die Risse verdeckt, die Worte übermalt, die ich niemals laut aussprechen würde. Diese Version von mir, die keiner kennt, bleibt gefangen – und ich weiß, dass ich sie niemals befreien kann.

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When we meet again
FanfictionOlivia hat in ihrem Leben mehr Kämpfe ausgefochten, als sie zählen kann. Aufgewachsen, immer mit dem Gefühl, funktionieren zu müssen, statt wirklich zu leben. Julian, den sie wegstößt, weil sie glaubt, nicht gut genug zu sein. Julian, mit dem sie v...