Um 6:30 Uhr morgens am Bus stehen? Für mich der Inbegriff des Grauens. Der Fluch, den ich in Gedanken Marco auferlegt habe, ist mehr als verdient – wieso zur Hölle musste er seinen Geburtstag ausgerechnet an einem Freitag feiern? Der Mann weiß offenbar nicht, was am nächsten Tag alles auf dem Spiel steht. Mit hämmerndem Kopf und viel zu wenig Schlaf stehe ich nun also am Mannschaftsbus, die einzige um diese Uhrzeit, wie immer. So sehr ich das frühe Aufstehen hasse, bin ich nie unpünktlich, wenn überhaupt, dann sind es die Jungs, die trödeln. Ich hasse Auswärtsspiele. Vor allem, wenn sie nichtmal heute sind, sondern erst morgen. Bis nach München. Einfach der Horror.
Seufzend schiebe ich meine kleine Reisetasche unter den Bus und klettere die Stufen hoch, auf der Suche nach einem halbwegs brauchbaren Sitzplatz. Ich lasse mich am Fenster nieder, lehne meinen Kopf zurück und schließe die Augen, meine Kopfhörer fest auf den Ohren. Wenn ich es schaffe, mich einfach für die gesamte Fahrt wegzuschlafen, dann könnte der Tag vielleicht noch zu retten sein.
Doch natürlich läuft das nicht nach Plan. Kaum bin ich ein bisschen eingenickt, verspüre ich einen leichten Ruckeln an meiner Schulter. Noch bevor ich die Augen aufschlagen muss, weiß ich, wer es ist – der unheilbare Morgenmensch, der sich Julian nennt.
„Morgen, Dornröschen", begrüßt er mich viel zu gut gelaunt und grinst, als würde er mir damit direkt ins Gehirn stechen.
Ich ziehe mürrisch meine Kopfhörer ab und blinzle ihn an, wobei ich versuche, meinen besten „Lass mich einfach in Ruhe"-Blick aufzusetzen. „Irgendwann wirst du mal zur Abwechslung nicht um sechs Uhr morgens gute Laune haben, oder?"
„Nicht in diesem Leben", erwidert er grinsend und beugt sich näher, sodass sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt ist. „Und wie fühlt sich die gute Olivia nach letzter Nacht an?"
„Ich fühl mich hervorragend, danke der Nachfrage", erwidere ich ironisch und setze die Kopfhörer wieder an, entschlossen, mich nicht auf eine seiner morgendlichen Sticheleien einzulassen.
Doch Julian ist schon schneller und zieht mir einfach einen Kopfhörer wieder runter. „Hervorragend? Na klar! Deshalb siehst du auch aus, als wärst du direkt aus einem Horrorfilm gestolpert. Was war das, der Zombie-Look von letzter Nacht?"
Ich schnaube leise, bemüht, mich nicht zu amüsieren. „Julian, wenn du nicht sofort Ruhe gibst, schlage ich dich mit dem nächst besten Ding K.O."
„Ha! Als ob du dafür genug Energie hättest", kontert er und lehnt sich zurück, wobei er mir einen triumphierenden Blick zuwirft. „Du siehst aus, als hätte dich ein Laster überfahren."
„Ich warte nur darauf, dass dieser Laster dich überfährt", murmele ich, und diesmal kann ich das Lächeln wirklich nicht ganz unterdrücken.
Julian schaut mich an, den Kopf schief gelegt, wie ein Hund, der darauf wartet, dass der Ball endlich geworfen wird. „Also, komm schon, Livi. Waren gestern wohl doch mehr Drinks, als du verträgst, was?."
„Ich hab keine Ahnung, wovon du redest", antworte ich trotzig und verschränke die Arme vor der Brust. „Ein Bier. Maximal zwei. Aber was verstehst du schon davon, Mister Ich-trinke-nur-Cola-und-verarsche-alle."
„Nur zwei Bier, sicher", sagt er und nickt übertrieben ernst. „Klingt sehr glaubwürdig, Livi."
„Julian, geh einfach. Irgendwo anders hinsetzen. Hier ist besetzt von meinem Kater und mir", sage ich, den Kopf zurückgelehnt, die Augen wieder geschlossen.
Aber natürlich lässt er das nicht gelten. „Ach komm schon, ich bin doch der beste Kater-Freund, den du dir wünschen kannst. Ich meine, schau mich an – ich bin die Essenz von Frische und guter Laune!"
Ich öffne ein Auge und mustere ihn skeptisch. „Ich sehe gar nichts anderes als eine wandelnde Nervensäge in der Gestalt eines selbstverliebten Kerls."
„Selbstverliebt? Bitte, ich bin einfach nur realistisch. Das ist ein großer Unterschied."
Ich verdrehe die Augen, doch diesmal bleibe ich stumm und setze die Kopfhörer wieder auf, was Julian scheinbar als eine Art Herausforderung interpretiert. Ein paar Sekunden Ruhe, in denen ich wirklich Hoffnung schöpfe, dass er aufgegeben hat. Doch plötzlich piekst er mir in die Seite, was mich so überrascht, dass ich die Augen aufreiße.
„Kannst du mir bitte verraten, warum du jetzt anfängst, mich zu nerven?" sage ich mit gespielter Empörung und schiebe seine Hand weg. „War es nicht genug, dass du mich an Marco's Geburtstag herausgefordert hast, Mats im Dart zu schlagen?"
Julian schüttelt den Kopf. „Tja, das hat wenigstens mal für ein bisschen Unterhaltung gesorgt. Du hast wirklich geglaubt, du könntest gewinnen, oder?"
„Könnte ich auch, wenn ich keine Nervensägen um mich hätte", entgegne ich trotzig. „Und außerdem, wie hast du dich dabei amüsiert? Standest die ganze Zeit grinsend wie ein Idiot neben mir."
Er lacht und zuckt mit den Schultern. „Ich hatte ja auch Recht. Außerdem, Livi, du weißt doch, ich bin nur da, um dir den Tag zu versüßen."
Ich schnaube und lehne mich an die Fensterscheibe. „Juli, wenn du so weitermachst, versüße ich dir den Tag, indem ich dich aus dem Bus werfe. Ernsthaft, ich bin nicht in der Laune für deine Sprüche."
„Ach, nicht in der Laune? Heißt das, wenn du morgen aufwachst und keine Kopfschmerzen hast, darf ich dann wieder mein Bestes geben?"
„Falls ich morgen keine Kopfschmerzen mehr habe, dann vielleicht", sage ich abwesend, versuche immer noch, mich auf die Musik zu konzentrieren.
„Notiert", murmelt er und lässt sich in seinen Sitz zurückfallen, grinst immer noch zufrieden, als hätte er eine kleine persönliche Schlacht gewonnen.
Und dann war Ruhe. Endlich. Meine Kopfhörer wieder fest auf den Ohren sitzend, schloss ich meine Augen. Doch insgeheim wurde mir jetzt erst so richtig klar, was ich da gerade gesagt habe. Ich habe Julian quasi die Erlaubnis gegeben, mich morgen zu nerven. Verdammt. Doch vielleicht habe ich dann ja jetzt endlich Ruhe. Eine achtstündige Fahrt neben diesem Idioten. Ich bete einfach, dass er mich wirklich in Ruhe lässt. Auf Bus-Buddys kann ich heute verzichten! Wirklich.
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When we meet again
FanfictionMit 13 Jahren hatte ich meinen ersten Freund. Ein Jahr später, ließ er mich sitzen. Das einzige was ich von ihm bekam war eine Nachricht. „Tut mir leid" mehr als diese drei Worte standen nicht drin. Doch warum sollte ich da noch immer hinterher trau...