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Es fiel mir nicht leicht, mich von den Jungs überreden zu lassen, mit in den Aufenthaltsraum zu kommen, aber sie ließen einfach nicht locker. Zuerst zögerte ich, doch dann gab ich schließlich nach. Dass ich als eine der wenigen Frauen hier war, störte mich eigentlich kaum – das kannte ich ja schon von der Arbeit. Doch die Erschöpfung, die mich durch die drückende Hitze überkam, machte mir das Ganze nicht leichter. Ich ließ mich erschöpft auf einen der Sessel fallen und schloss kurz die Augen.

„Da bist du ja! Komm, die Jungs wollen was spielen", rief Jamie grinsend und zog mich aus meiner Starre.

„Und was soll ich dann da?", fragte ich, noch immer etwas widerwillig.

„Na, eine Art Schiedsrichter sein", erwiderte er mit einem schelmischen Lächeln.

Seufzend zwang ich mich hoch und folgte Jamie, der mich zum Spiel führte. Es war eine der üblichen lockeren Runden, bei denen sich alle immer wieder herausforderten, um ihre Bindungen und Beziehungen zu testen. Als wir die große Couchlandschaft erreichten, übernahm Mats das Kommando.

„Also gut, wir haben zwei Teams. Alle Singles nach rechts, und alle Vergebenen, Verlobten oder auch Verheirateten nach links!", rief er euphorisch. Es war offensichtlich, dass einige der Jungs etwas getrunken hatten, und ich konnte mir kaum vorstellen, was für ein Spiel sie da auf die Beine gestellt hatten. Aber das war nicht das, was mich im Moment beschäftigte. Ich verstand dieses Spiel ohnehin nicht, und das stand mir wohl auch ins Gesicht geschrieben.

„Olivia, stell dich dazu. Ich mach heute den Schiedsrichter", sagte Mats fröhlich.

„Auf welche Seite muss ich denn?", murmelte ich eher zu mir selbst, als zu Mats.

„Na, da rüber. Du bist doch verlobt. Oder willst du deinen Verlobten etwa verheimlichen?", lachte Jamie, als er mich auf die linke Seite drückte.

„Jamie, hör auf", stoppte ich ihn schnell. Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog. Es war zu viel.

„Olivia, komm schon, eine Runde nur", bettelte er, doch ich hatte keine Kraft mehr, darauf zu reagieren.

Wortlos verließ ich die Runde, während mich die Blicke der anderen spürbar begleiteten. Als ich draußen an die frische Luft trat, hatte ich das Gefühl, den Raum einfach verlassen zu müssen. Die Gedanken, die sich in meinem Kopf überschlugen, machten es schwer zu atmen. Meine Hände zitterten, und ich spürte, wie Tränen in meinen Augen aufstiegen.

Ich setzte mich auf einen Stuhl und versuchte, mich zu beruhigen. Doch die Stille tat nicht viel für mich. In diesem Moment spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.

„Geht's dir gut?", fragte Julian leise, und ich merkte, wie sich der Kloß in meinem Hals noch fester anfühlte.

Langsam schüttelte ich den Kopf. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen. Julian setzte sich einfach neben mich, und wir starrten für eine Weile schweigend auf die riesige grüne Wiese vor uns. Ich war froh, nicht reden zu müssen. In diesem Moment war die Stille ein kleiner Trost.

„Du bist also verlobt?", fragte Julian nach einer Weile vorsichtig, als die Tränen endlich ihre Wangen hinabrollten.

„Nicht mehr", flüsterte ich, mein Herz zog sich zusammen. Ich hatte gehofft, dass dieses Thema hier nicht aufkommen würde, doch Julian hatte schnell bemerkt, wie schwer mir dieses Thema zu schaffen machte. Er fragte nicht weiter. Doch irgendetwas in mir drängte mich dazu, es ihm zu erzählen.

„Er hat mich vor ein paar Wochen betrogen", sagte ich leise, als die Worte wie ein unkontrollierbarer Strom aus mir herausbrachen.

„Ich war auf dem Weg, Jamie von dem Abend mit euch abzuholen, und bin zufällig an unserem Haus vorbeigekommen. Da hab ich es gesehen. Am nächsten Tag habe ich meine Sachen gepackt und Schluss gemacht", erzählte ich, und das Erschrecken in Julians Gesicht konnte ich auch ohne hinzusehen spüren.

„Fuck, Livi, das tut mir leid. Das hast du nicht verdient", meinte er ehrlich, und ich konnte die Anteilnahme in seiner Stimme hören.

„Wir waren vier Jahre zusammen", erklärte ich noch, als ob die Zeit und die Erinnerung daran mir irgendwie den Schmerz nehmen würden. Aber sie taten es nicht.

„Bist du wegen ihm nach Dortmund gezogen?", fragte Julian ruhig.

„Ja, du weißt, ich wollte nie aus Wolfsburg raus. Aber er hat ein Jobangebot bekommen. Letztlich bin ich doch mit ihm mit", erklärte ich, meine Stimme brach fast bei den letzten Worten. „Und jetzt kann ich nicht mal einfach zurück", sagte ich, während eine weitere Träne meine Wange hinunterrollte.

„Wieso nicht?", fragte er leise.

„Mein Arbeitsvertrag. Der ist bindend und geht noch länger als anderthalb Jahre", erklärte ich ihm, und Julian nickte stumm.

Dann legte er einen Arm um meine Schulter und zog mich leicht zu sich. „Das hast du nicht verdient", murmelte er, und ich konnte nur noch in seiner Nähe weinen. Eine ganze Stunde saßen wir so da, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Die Zeit schien stillzustehen.

„Ich muss Jamie langsam hochschicken", sagte ich ruhig und richtete mich langsam wieder auf.

„Das haben die anderen schon gemacht", erklärte Julian mir.

„Wie spät ist es?", fragte ich, während ich versuchte, wieder klarer zu denken.

„Halb eins", antwortete er.

„Vielleicht sollten wir langsam auch ins Bett. Sonst bist du morgen früh nicht fit", schlug ich vor, wollte schon aufstehen, doch er zog mich wieder sanft zurück auf den Stuhl.

„Schon gut, ich komme mit wenig Schlaf gut klar", meinte er, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Er war immer noch derjenige, der sich nicht großartig Sorgen um Schlaf machte.

„Geht's dir jetzt besser?", fragte er vorsichtig.

„Die Wahrheit?", fragte ich, und er nickte stumm.

„Nicht wirklich. Ich muss es einfach verarbeiten", erklärte ich. Die Antwort war kurz, doch sie brachte die ganze Last meiner Gefühle zum Ausdruck. Julian sagte nichts mehr dazu. Vielleicht hatte er verstanden, dass niemand wirklich etwas tun konnte. Ich musste lernen, mit dem Schmerz klarzukommen. Ich musste damit zurechtkommen, von dem Menschen betrogen worden zu sein, dem ich mein Vertrauen geschenkt hatte. Und auch wenn er mir leid tat, wusste ich eines: Ich konnte niemals wieder jemandem einfach so vertrauen. Nicht einmal eine jahrelange Beziehung hatte Jonas davon abgehalten, mich zu hintergehen.

Die Stille zwischen uns war eine, die mich nachdenklich stimmte. Wie war es dazu gekommen, dass ich hier war, in diesem Moment, mit Julian neben mir? Ich hatte nie gedacht, dass ich ihn wiedersehen würde. Und genau diesen Gedanken sprach ich schließlich auch aus.

„Ich habe echt nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen werde", sagte ich leise.

„Ich habe auch nicht damit gerechnet", antwortete er und schüttelte leicht den Kopf.

„Weißt du, ich wusste damals nicht, wie ich mich von dir verabschieden sollte. Deshalb...", begann er, doch ich unterbrach ihn schnell.

„Deshalb hast du mir nur die Nachricht geschrieben? Julian, ich bin dir nicht böse. Du hattest eine riesige Chance bei Leverkusen bekommen. Und jetzt schau doch, was daraus geworden ist", sagte ich und versuchte, ihm zu vermitteln, dass ich den Abschluss damals verstanden hatte.

„Ich weiß, nur... nur hätte ich es damals anders machen sollen", meinte er nachdenklich.

„Vielleicht. Aber vielleicht wäre dann auch einiges anders gelaufen. Denk nicht so viel über früher nach, wir haben beide weiter unser Leben gelebt. Wir waren Teenager", sagte ich, und versuchte, die Leichtigkeit zurückzubringen.

„Ja, du hast ja recht", sagte er und gähnte dann.

„Ich sollte echt mal ins Bett jetzt", gab ich müde von mir.

„Dann komm, ich begleite dich noch", sagte er, stand auf und reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen.

„Gute Nacht, Livi", sagte er leise, nachdem er mich bis zu meinem Zimmer begleitet hatte.

„Gute Nacht, Juli. Danke für heute", antwortete ich ihm mit einem schwachen Lächeln, ehe ich die Tür hinter mir schloss und mich ins Bett legte. Innerhalb weniger Minuten war ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

When we meet againWhere stories live. Discover now