Am nächsten Morgen wache ich neben Julian auf, der noch tief und fest schläft. Seine Hand liegt schwer auf meiner Taille, als wäre ich irgendein Anker für ihn, aber ich merke, dass eher ich hier diejenige bin, die Halt sucht – die überhaupt nicht weiß, wo sie hingehört, oder ob sie das jemals tun wird.
Ich schiebe mich vorsichtig aus dem Bett, um ihn nicht zu wecken, und nehme meine Sachen aus dem Bad, die viel zu großen Klamotten, die ich immer noch nicht abgelegt habe. Ich brauche frische Luft, jetzt sofort, um den dicken Nebel in meinem Kopf ein bisschen zu lichten. Die Erinnerungen an gestern Abend steigen in mir auf, und mir wird heiß vor Scham. Warum habe ich ihm so viel gezeigt? Warum habe ich mich schon wieder an ihn geklammert, als wäre er die Rettungsleine, die ich nicht mehr verlieren darf?
Ich laufe zur Lobby und setze mich auf eine der Sofas, starre ins Leere und warte, dass die Gedanken aufhören, mich zu überrennen. Mein Kopf fühlt sich schwer an, und das Gefühl von Schuld zieht sich wie ein Faden durch alles, was ich denke. Das mit meinem Vater, das mit meinem Ex, die endlose Angst, die mich nie loslässt. Julian hat mich gestern gesehen – zu viel von mir. Es war schon viel zu nah.
Die automatische Eingangstür öffnet sich, und Julian tritt herein. Ich sehe ihn nur aus dem Augenwinkel, versuche wegzuschauen, aber er kommt direkt auf mich zu. „Alles okay?" fragt er, seine Stimme leise und sanft.
„Ja, klar", sage ich schnell, und ich höre selbst, wie unglaubwürdig das klingt. Ich möchte ihn abwimmeln, Abstand gewinnen, bevor noch mehr von mir sichtbar wird. Aber er setzt sich einfach neben mich und schaut mich lange an.
„Livi, du brauchst nicht so zu tun, als wäre alles in Ordnung", sagt er schließlich und legt seine Hand auf meine Schulter. „Du musst nicht alles allein tragen."
Sein Blick ist sanft, und es tut weh, weil er mich so sieht, wie ich mich selbst nicht sehen kann – als jemanden, der es verdient hat, dass jemand bleibt. Ich schüttele den Kopf. Ich will ihn nicht an mich heranlassen. Ich kann ihm nicht vertrauen, auch wenn er es noch so ernst meint. Ich weiß nicht mal, ob ich jemals wieder irgendwem vertrauen kann.
„Julian, bitte ... das geht einfach nicht", sage ich schließlich, und es fühlt sich an, als würde ich die Worte aus mir herausreißen. „Du verstehst das nicht."
„Vielleicht nicht", gibt er zu, „aber ich will es verstehen."
Die Worte schwirren in meinem Kopf, setzen sich fest, und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich will ihm nicht erklären müssen, was mir diese Anrufe an die leere Nummer bedeuten, wie sie mich jedes Mal ein bisschen fester an die Erinnerung klammern lassen. Dass ich Angst habe, ihn auch noch zu verlieren, wie alle anderen. Dass mich das Misstrauen zerfrisst, und ich nicht mehr weiß, wie man überhaupt vertraut.
„Es ist besser, wenn ich allein klarkomme", sage ich schließlich und stehe auf. „Ich muss das einfach für mich durchziehen." Ich sehe ihn an und kann in seinen Augen so viel Verstehen und doch so viel Unverständnis lesen. Aber er sagt nichts mehr.
Ich gehe zurück ins Zimmer, lege mich aufs Bett und starre an die Decke. Die Wände fühlen sich plötzlich eng an, wie sie mich einengen, als würde mir jeder Schritt schwerer fallen. Ein Gedanke nach dem anderen prasselt auf mich ein, und ich weiß, ich muss das allein durchstehen. Julian kann ich nicht mit hineinziehen.
Ich lege die Klamotten von Julian ordentlich auf seinem Bett ab, so als könnte das etwas Ordnung in meinen eigenen Kopf bringen. Doch das Chaos bleibt, ich ziehe mich zurück und verlasse das Zimmer.
Unten in der Lobby sehe ich den älteren Herrn, der gestern Nacht am Empfang gearbeitet hatte. Ich gehe auf ihn zu, die Unsicherheit im Magen ist da, aber ich zwinge mich zu einem Lächeln.

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When we meet again
FanfictionOlivia hat in ihrem Leben mehr Kämpfe ausgefochten, als sie zählen kann. Aufgewachsen, immer mit dem Gefühl, funktionieren zu müssen, statt wirklich zu leben. Julian, den sie wegstößt, weil sie glaubt, nicht gut genug zu sein. Julian, mit dem sie v...