21

124 5 0
                                        

Das Trainingslager ging vorbei, und ich konnte endlich wieder zu mir kommen, wieder den Raum für mich allein haben. Ich habe mich schnell wieder darauf fokussiert, alleine zu sein, mich von allen fernzuhalten, die nur ansatzweise zu nah kommen könnten. In den letzten Wochen bin ich wieder in meinen eigenen Rhythmus zurückgefallen und habe es fast geschafft, die Momente der Nähe im Trainingslager hinter mir zu lassen. Die Gefühlsausbrüche zu vergessen.

Zumindest habe ich mich in meiner neuen Wohnung inzwischen ganz gut eingelebt. Es fühlt sich allmählich wie ein Zuhause an, die Pflanzen leben noch, und überall sind Kleinigkeiten, die mir etwas bedeuten. Es ist fast beruhigend, seine eigenen vier Wände zu haben, ohne fremde Einflüsse, ohne Verpflichtungen außer denen, die ich mir selbst setze. Das ist das erste mal, dass ich vollkommen alleine lebe. Als ich zuhause ausgezogen bin, bin ich direkt mit Jonas in eine Wohnung. Gerade deshalb ist es so komisch, alles selbst einzurichten. So, wie es mir gefällt.

In der Arbeit habe ich mein gewohntes Gleichgewicht gewahrt, das Gesicht aufgesetzt, das alle kennen, ohne wirklich zu wissen, wer ich bin. Eigentlich kenne ich dieses Gesicht selbst kaum. Es ist wie eine Maske, eine gut eingespielte Rolle, und ich fühle mich sicher darin, weil sie mich ein wenig von allem schützt. Der Lohn für das Trainingslager und für das Begleiten von Jamie war großzügig, über die man sich eigentlich freuen müsste. Doch jetzt, wo alles vorbei ist, kehrt dieses nagende Gefühl zurück: Was habe ich mir dabei nur gedacht? Von da an habe ich die letzten Wochen nur mit Jamie Verbracht. Ich musste ihn überallhin begleiten. Ein Job, bei dem ich ihm zum Training, zu beruflichen Anlässen und sogar zu Team-Events begleiten musste, weil die Bosse des BVB es so wollten. Sie waren sich unsicher, ob er es alleine schon schafft.

Doch nächste Woche zieht Jamie aus. Eine eigene Wohnung, sein eigener Platz. Er gehört jetzt offiziell zum Profikader und braucht mich nicht mehr als Begleitung. Es wäre nur logisch, dass ich dann wieder zu meiner alten Arbeit zurückkehre, mich mehr um die anderen Jungs kümmern kann. So sollte es jedenfalls sein, und ich dachte, damit wäre alles geklärt.

Doch kaum, dass ich an diesem Nachmittag Feierabend mache und zum Parkplatz schlendere, sehe ich Herrn Watzke und Edin auf mich zukommen. Die beiden lächeln.. Ich bleibe stehen, einen Augenblick unsicher, was das werden soll.

„Olivia, haben Sie einen Moment?", fragt Herr Watzke, und ich nicke vorsichtig.

„Natürlich", antworte ich, versuche, ruhig zu klingen, doch innerlich bin ich angespannt. Was jetzt? Kündigung? Unzufrieden mit mir?

Herr Watzke räuspert sich und sieht mich direkt an. „Sie wissen ja, dass Jamie demnächst auszieht und Ihre Begleitung dann nicht mehr braucht. Wir wissen, dass Sie sehr gute Arbeit geleistet haben – darüber waren sich alle einig."

Ich atme tief durch, während Edin hinzufügt: „Genau, und deshalb haben wir überlegt, wie es weitergeht. Wir haben bereits jemanden, der Ihre jetzige Aufgabe im Jugendwohnhaus übernehmen kann."

Ich runzle die Stirn und höre auf, nach dem Autoschlüssel in meiner Tasche zu suchen. Wird das jetzt ein nettes Gespräch darüber, wie toll meine Arbeit war, aber irgendwie auch nicht und ich gefeiert bin? Mein Herz rast gerade einfach nur. Ich bin auf das schlimmste vorbereitet. Kündigung.

„Wir möchten, dass Sie für die erste Mannschaft arbeiten", sagt Herr Watzke schließlich. „Als Begleitperson für die Jungs. Ein Vollzeitjob, fünf Tage die Woche, bei dem Sie an allen Spielen, Trainingseinheiten und Trainingslagern teilnehmen. Es geht darum, jemandem als Bezugsperson und Ansprechpartnerin zur Seite zu stehen – jemandem, dem die Spieler vertrauen können."

Ich bin völlig überrumpelt. Also doch nicht gefeuert? „Sie wollen, dass ich...?" Die Worte bleiben mir fast im Hals stecken, und ich suche nach etwas, das ich sagen könnte. „Wirklich... bei der ersten Mannschaft?"

„Ja", bestätigt Edin ernst und fügt hinzu: „Uns ist es wichtig, dass wir jemanden haben, der die Jungs auch mental unterstützt und versteht. Jemand, der auch ihre Stimmungen erkennt und weiß, wie man damit umgeht. Im Trainingslager haben wir gesehen, dass sie dafür genau die richtige wären. Sie haben sich mit allen bestens verstanden".

Es wäre eine Lüge, zu sagen, dass ich nicht sofort Feuer und Flamme für den Job bin. Es wäre genau die Herausforderung, die ich mir immer gewünscht habe, eine echte Aufgabe, die mich fordert und mir keine Zeit lässt, über alles Mögliche nachzugrübeln. Aber dann mischt sich dieser andere Gedanke ein – die Nähe, die das alles bedeuten würde. Die Nähe zu den Jungs, zu Julian. Zu ihm, der mich schon im Trainingslager viel zu oft beobachtet hat, als hätte er das Gefühl, hinter meine Maske blicken zu können. Bei dem ich nicht nur einmal, sondern gleich zwei mal in Tränen ausgebrochen bin. Er hat diese Art, einfach zu merken, wenn etwas nicht stimmt, und das sollte er sich eigentlich nicht. Nicht bei mir. Nicht nach Acht Jahren.

„Das ist...", beginne ich, unsicher, was ich sagen soll.

Watzke sieht mir in die Augen, beinahe eindringlich. „Wir wollen Sie unbedingt für diesen Job, Olivia."

Und da weiß ich, dass ich kaum eine Wahl habe. Vermutlich ist meine Stelle dann auch schon weg. Schließlich haben sie ja schon jemand neuen gefunden. „Ich nehme das Angebot gerne an." räusperte ich mich dann.

„Super. Wir sind sehr froh darüber. Wir würden ihnen dich wichtigsten Sachen zukommen lassen. Ab morgen geht es für sie dann schon los" erklärt er Watzke noch.

Anschließend verabschieden wir uns noch voneinander, ehe ich ins Auto einsteige und den direkten Weg zu meiner Wohnung bestreite.

Zuhause angekommen, schließe ich die Tür meiner Wohnung hinter mir und lehne mich für einen Moment dagegen, als könnte ich die Gedanken damit draußen halten. Doch kaum sitze ich auf meiner Couch, strömt alles wieder auf mich ein. War es wirklich die richtige Entscheidung, diesen Job anzunehmen?

Es wäre so viel einfacher gewesen, in meinem alten Job zu bleiben, mich mit der Distanz zu den Spielern und den Strukturen, die ich gut kenne, sicher zu fühlen. Jetzt habe ich mich aber auf etwas eingelassen, das so viel mehr von mir fordert – jeden Tag direkt bei den Jungs, jede Woche, jedes Spiel, jedes Training. Nähe, die ich mir doch eigentlich verbieten wollte. Nähe, die Julian einschließt.

Ich weiß, warum ich Ja gesagt habe. Es war die Chance, mich so auszulasten, dass mir für Gedanken an Ängste oder Zweifel gar keine Zeit bleibt. Ein Vollzeitjob, der mir kaum Luft lässt für Grübeleien. Aber wenn ich ehrlich bin, sind es genau diese intensiven Momente, vor denen ich mich fürchte – wenn die Fassade bröckeln könnte, und ich nicht weiß, ob ich stark genug bin, sie aufrechtzuerhalten.

Ich betrachte die Pflanzen auf meinem Fensterbrett, die kleinen Details, die ich in diese Wohnung gebracht habe, um sie wie ein Zuhause wirken zu lassen. Doch was bringt es, einen Raum zu haben, wenn ich mich selbst darin ständig zurückziehe, aus Angst, dass jemand hinter die Fassade blicken könnte? Vielleicht ist der Job auch eine Chance – ein Risiko, ja, aber auch eine Möglichkeit, wieder ein bisschen mehr ich selbst zu werden.

Die Stille um mich herum wirkt plötzlich so groß, so allumfassend. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich den Schritt schon aus genau diesem Grund gehen musste – dass es keine andere Möglichkeit gab, als zu hoffen, dass die Entscheidung richtig war. Um vielleicht einen Teil zu finden, der mir zeigt, wie ich wirklich bin.
Wer ich wirklich bin.

When we meet againWhere stories live. Discover now