„Komme!" rief ich laut, nachdem das Klopfen an meiner Tür mich aus meiner beinahe eingedösten Lage gerissen hatte. Schwerfällig schleppte ich mich aus dem Bett und öffnete die Tür.Julian stand davor.
„Hey... darf ich reinkommen?" fragte er zögernd.
„Ähh, ja klar," antwortete ich überrascht und trat einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Nachdem ich die Tür wieder geschlossen hatte, drehte ich mich zu ihm um.
„Was gibt's denn?" fragte ich direkt. Mein Herz klopfte schneller, ohne dass ich wusste, warum. Ich war völlig überfordert. Warum war er hier?
Julian kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich wollte fragen, wie es dir geht."
Ich blinzelte. „Gut?" Es klang eher wie eine Frage als eine Antwort.
Er seufzte leise und sah mich mit diesem Blick an.
„Livi... ich kenne dich. Dir geht's nicht gut."
Mein Atem stockte kurz. Ging es mir nicht gut? Natürlich nicht. Mein Verlobter hatte mich nach Jahren der Beziehung betrogen. Ich war kurz davor gewesen, ihn zu heiraten. Und dann war heute auch noch der Todestag meines Vaters. Natürlich ging es mir nicht gut. Aber das wollte ich ihn nicht wissen lassen. Ich wollte nicht wie das gebrochene Mädchen aus diesen kitschigen Filmen wirken.
„Julian, wir haben uns acht Jahre nicht gesehen oder gehört. Du kennst mich nicht mehr. Ich bin nicht mehr dieselbe wie damals. Wir haben uns verändert."
Doch er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ja, wir sind älter und vielleicht auch reifer geworden. Aber du bist immer noch Livi. Und ich bin immer noch Juli. Ich sehe doch, wenn es dir nicht gut geht."
Warum konnte er das so gut? Warum erkannte er mich immer noch, selbst nach all den Jahren?
„Du hast heute Geburtstag, und anstatt glücklich zu sein, warst du beim Essen völlig in Gedanken versunken."
War ich das? Ja. Ja, definitiv.
„Du kannst mit mir reden, wenn du willst."
Wollte ich das? Ja. Gott, ja, ich wollte so sehr einfach alles rauslassen, was sich in den letzten Wochen angestaut hatte. Aber ich konnte nicht. Ich kannte ihn doch kaum noch. Alles an ihm hatte sich verändert. Ich konnte ihm nicht so einfach vertrauen.
„Livi?"
Mein Name klang leise, fast vorsichtig. Mensch, Olivia, reiß dich zusammen! Ich hatte mich schon wieder in meinen Gedanken verloren.
„Ich kann nicht, Jule." Ich schüttelte den Kopf.
Er nickte verständnisvoll. „Okay. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber ich bin da, falls du jemanden brauchst."
Ich starrte auf den Boden. Wieder dachte ich zu viel nach. Zu viel. Mein Brustkorb fühlte sich eng an, als würde alles in mir zerbrechen. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
„Hast du gehört? Ich bin für dich da, Livi. Egal, was zwischen uns war."
Vorsichtig hob er mein Kinn mit seinen Fingern an, sodass ich ihn ansehen musste. Seine braunen Augen suchten meine – warm, besorgt, ehrlich.
Und dann zog er mich in seine Arme.
Ich konnte nicht anders, als mich an ihm festzuklammern. Meine Finger krallten sich in den Stoff seines Hoodies. Mein ganzer Körper zitterte. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie unter mir nachgeben.
Ohne ein Wort hob Julian mich hoch und setzte sich mit mir aufs Bett, mich auf seinem Schoß haltend.
Und dann... brach ich zusammen.
Die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, bahnten sich gnadenlos ihren Weg. Der Schmerz, den ich verdrängt hatte, fand endlich einen Ausweg. Ich konnte nicht mehr. Ich ließ alles raus. Wäre Julian nicht da gewesen, ich wäre in mich selbst zusammengesunken.
Aber er hielt mich.
Und ich spürte es. Zum ersten Mal seit Wochen, Monaten – vielleicht sogar Jahren – fand ich Halt.
Ich hatte gedacht, Jonas wäre die Liebe meines Lebens. Dass er derjenige wäre, bei dem ich immer Sicherheit finden würde. Doch jetzt wurde mir klar: Er hatte mich nie wirklich aufgefangen. Nie so gehalten, wie Julian es in diesem Moment tat.
Nicht einmal, als mein Vater starb.
Damals hatte ich alles getan, um meine eigenen Gefühle zu verstecken. Ich hatte stark sein müssen – für meine Mutter.
Aber jetzt... jetzt konnte ich nicht mehr stark sein.
Und Julian ließ mich einfach loslassen.
Seine Hand strich beruhigend meinen Rücken auf und ab, während meine Tränen nach und nach versiegten. Ich spürte, wie sich mein Atem allmählich beruhigte. Wie das Zittern nachließ.
Langsam hob ich meinen Kopf aus der Kuhle seines Halses und sah ihn an.
„Ich habe deinen ganzen Pulli vollgeweint," murmelte ich entschuldigend.
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Macht nichts." Er strich mir mit dem Daumen eine letzte Träne von der Wange.
„Danke." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Nicht dafür." Seine Stimme war genauso leise. „Ich bin da, wenn du reden willst. Und wenn nicht, bin ich trotzdem da."
Vorsichtig schob er mir eine Strähne hinter das Ohr. Ich nickte nur.
Wir lagen immer noch auf meinem Bett. Julian hatte einen Arm um mich gelegt, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und irgendwie fühlte es sich auch genau so an.
Nach einer Weile murmelte er: „Ich sollte langsam rübergehen."
Er setzte sich auf, doch bevor er aufstehen konnte, kam mir ein plötzlicher Impuls.
„Juli?" Meine Stimme war leise. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Kannst du... kannst du hier bleiben?"
Ich wollte nicht alleine sein.
Julian sah mich einen Moment lang an, dann lächelte er sanft. Ohne ein weiteres Wort legte er sich wieder neben mich.
„Danke," flüsterte ich erneut.
Er schmunzelte. „Hör auf, dich zu bedanken."
Dann zog er mich eng an sich.
Ich wusste nicht, wann ich eingeschlafen war. Nur, dass ich mich zum ersten Mal seit Langem frei fühlte.
Frei vom Schmerz.
Frei von Gedanken.
Frei von allem.
Und vor allem: Sicher.

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When we meet again
FanfictionOlivia hat in ihrem Leben mehr Kämpfe ausgefochten, als sie zählen kann. Aufgewachsen, immer mit dem Gefühl, funktionieren zu müssen, statt wirklich zu leben. Julian, den sie wegstößt, weil sie glaubt, nicht gut genug zu sein. Julian, mit dem sie v...